„Ratzinger wäre falsch interpretiert, wenn man ihn als Antidemokraten beschriebe. Er plädiert für eine christliche Demokratie. Ich würde das übersetzen in ein Theorem, an dem ich seit längerer Zeit arbeite: Was uns demnach bevorsteht, ist die globale Wende in den ‚autoritären Kapitalismus‘ – und zwar auf der Grundlage eines neo-autoritären Werte-Denkens. Ratzingers Visionen lassen sich mühelos in einen solchen Kontext einordnen. Das 21. Jahrhundert wird zum Labor des Neu-Autoritarismus, das heißt des Kapitalismus, der die Demokratie nicht mehr nötig hat.“ So beschreibt Peter Sloterdijk, in einem Interview mit dem Tagesspiegel im Juli 2005 die Wendung zum modernen „christlichen“ Demokratiebegriff.
Nach seinem Besuch in Bayern und der damit verbundenen Erneuerung der traditionsreichen kirchlichen Partnerschaft mit der weltlichen Macht beweist der Papst, dass er nicht etwa eine provinzielle, sondern durchaus eine globale Strategie verfolgt. Der aktuelle Besuch des Papstes in der Türkei ist tatsächlich nichts anderes als ein neues Kapitel geläuterter Machtpolitik des Vatikan. Mit gewaltigem Medienrummel landet der Papst, der bisher vor allem Muslime zu sich kommen ließ, in der Türkei. Auf Spiegel-Online wird dieses neue Kapitel mit der passenden Überschrift „Generalplan zur Rüstung des Christentums“ versehen. Neben der Stärkung des Christentums, bedroht von Säkularisierung und – wie man des Öfteren von Kirchenoberen hört – bedroht vom Islam, geht es nun um eine Allianz mit den „wehrhaften“ orthodoxen Kirchen des Ostens. Der deutsche Papst sieht sich nach seinem Besuch in Ankara mittelfristig auch in Moskau.
Die Begegnung mit dem Islam wird in Zeiten leerer Kirchen gerne auch als Bedrohungsszenario inszeniert, auch um die christlich-konservative Mobilisierung, die im Kern vom Feindbild Islam lebt und ganz Europa ergreifen soll, mit neuem Leben zu versehen. Eine, wie Sloterdijk dies fasst, verspätete Wendepolitik sozusagen. Ganz nebenbei sieht die „Wirtschaftsmacht“ Kirche im Islam natürlich auch in Europa einen Konkurrenten, der die eigene herausgehobene Stellung und die nachhaltige Finanzierung der zölibatären Bürokratie gefährden könnte. In seinem Buch Wirtschaftsimperium Kirche schreibt Friedhelm Schwarz: „Der Jahresumsatz ist höher als der von Telekom, Post und Bahn zusammen. Die Zahl der Mitarbeiter übersteigt die von Siemens um das Dreifache. Hinzu kommen Subventionen, Steuervergünstigungen und ein riesiges Gesamtvermögen – die Kirche ist ein wahrer Wirtschaftsgigant, der mächtigste Konzern Deutschlands.“
Der Islam in Deutschland, aus Sicht der politischen Kirche so notwendig wie aus meiner Sicht einschränkend als Immigrantenphänomen verstanden, ist dagegen im Kampf um Meinungen und Köpfe bescheiden, sagen wir spärlich ausgestattet. Standortnachteile eben. Dennoch entdecken immer mehr Menschen in Deutschland den Islam, gerade auch, weil er sich für die Intelligenz, die sich vom Christentum abgewandt hat, als „denkbar“ zeigt und ohne evident irrationale Glaubenssätze auskommt. Nietzsche war sogar soweit gegangen, Europas zwei Grundprobleme mit „Alkohol und Christentum“ zu verknüpfen, Goethe und Rilke hatten die Einheitslehre des Islam bewundert und den Verzicht auf vermittelnde Priester schlicht als Befreiung begriffen.
Nicht zuletzt ist es auch das Festhalten an ökonomischen Grenzziehungen, die den Islam für den europäischen Intellekt in der Moderne anziehend macht. Die Beschränkung ökonomischer Macht, in der letzten Offenbarung klar beschrieben, ist nichts anderes als eine der wesentlichen Essenzen der islamischen Botschaft in dieser Zeit. Es ist übrigens genau die Stelle, in der sich der alte Opportunismus der Kirche gegenüber der weltlichen Macht in gewandelter Form zeigt.