Offenbar gibt es trotz aller Menschenrechte und Konventionen Orte auf der Welt, an denen Menschen vorsätzlich, systematisch und folgenlos unmenschlich behandelt werden können. Man kann darin singuläre Vergehen gegen eine Rechtsordnung sehen, die nun im Rahmen dieser Ordnung bestraft werden müssen. Oder aber man könnte mit Agamben nach den Orten fragen, an denen Rechtsordnungen permanent aufgehoben werden, um all das zu suspendieren, was sich der absolut willkürlichen Behandlung von Menschen entgegen stellen mag.
Diese Frage, die bereits Homo Sacer und Was von Auschwitz bleibt orientiert hat, ist auch in Agambens neuem Essay über den Ausnahmezustand die gleiche geblieben: Grenzt die politische Souveränität einen Raum aus, in dem der Mensch aller Rechte entkleidet und als „nacktes Leben“ behandelt, gepeinigt, erniedrigt oder getötet werden kann, ohne dass damit ein Verbrechen im Sinne des sonst geltenden Rechts begangen würde? Auschwitz markiert für Agamben nur den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die von antiken Rechtsinstituten über die politische Theologie der „Zwei Körper des Königs“ bis in die Biopolitik der Moderne führt und in allen Zeiten daran zu erkennen ist, dass das Politische eine „Sphäre“ konstituiert, „in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen“.
Es gebe keine Form politischer Souveränität, so lautet die starke These, die nicht homini sacri produzierte, Positionen für Individuen also, die außerhalb der normalen Rechtsordnung ganz nach Belieben des Souveräns traktiert werden könnten – von der Zwangssterilisierung bis zur Vivisektion. – Unter Rückgriff auf Michel Foucault und Carl Schmitt hat Agamben derartige „Sphären“ der institutionalisierten Rechtsfreiheit als Produkte einer Normalisierung des Ausnahmezustandes beschrieben. Was bei Gefahr im Verzug ausnahmsweise zum Schutz von Staat und Verfassung nötig sei: Nämlich die zeitlich begrenzte Aufhebung der Rechtsordnung werde nun an gewissen Orten auf Dauer gestellt.
Agamben hatte mit der Behauptung irritiert, das „Lager“ sei „der neue biopolitische nómos des Planeten“, und die Rezensenten haben in einer Art spekulativen Präzisierung Guantanamo Bay als Beispiel genannt. Agamben hat diese Deutung nun bestätigt. Gerade dieses Lager entspringe dem Ausnahmezustand. Die dort internierten Kämpfer genießen keinen präzisen Status, etwa als Kriegsgefangene oder Verbrecher, und werden ohne Anklage und ohne „jede Form rechtlicher Kontrolle“ festgehalten und rechtlich unbestimmten, willkürlichen Maßnahmen unterworfen. „Vergleichbar ist dies allenfalls“, schreibt Agamben über die entsprechenden „Anordnungen“ Bushs, „mit dem rechtlichen Status der Juden in den Nazi-Lagern“. Was hier verglichen werden soll, ist nicht der Grad an Grausamkeit oder Unsicherheit, dem die Internierten ausgesetzt sind, sondern der rechtliche Zustand, der die Ausgrenzung solcher Zonen ermöglicht: Und dies ist der Ausnahmezustand.
Wie stets bei Agamben, versucht er mit einer Lektüre antiker Texte die Gestalt des Phänomens zu bestimmen. Im iustitium des römischen Rechts (der zeitlich begrenzten Aussetzung aller rechtsgeschäfte) findet er den „Archetyp des modernen Ausnahmezustands“. In kritischer Auseinandersetzung mit der Rechtsgeschichte deutet er das iustitium als ultimative Reaktion des Senats auf einen tumultus. Angesichts von Unruhen und der Gefährdung der Republik selbst verhängt der Senat einen „Stillstand des Rechts“, eine „Suspendierung der gesamten Rechtsordnung“. Die Maßnahmen, die während dieses Ausnahmezustands ergriffen werden, um die Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen, liegen „jenseits des Rechtsbereichs“. Der Ausnahmezustand, dies ist Agamben wichtig, ist also keine Diktatur. Tatsächlich besteht zwischen der Diktatur und einer Rechtsordnung auch gar kein Widerspruch, hierin wären sich Rechtspositivisten wie Hans Kelsen und Dezisionisten wie Carl Schmitt einig.
Das Zwangsregime „totalitärer Staaten“ vollzieht sich, so Kelsen 1934, innerhalb des Rechts dieser Staaten, nicht außerhalb. Der Ausnahmezustand dagegen hebt die Verfassung auf und ist ein politischer Zustand, in dem, so Schmitt 1931, das „Zentrum des Staates offen zutage“ tritt. Der Souverän selbst zeigt sich als derjenige, bei dem die letzte Entscheidung darüber steht, ob jene „erhebliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ besteht, zu deren Bekämpfung die Verfassung, die geschützt werden soll, aufgehoben wird.
Der 1933 von Hitler verhängte Ausnahmezustand wurde bis 1945 nie beendet. Die bestürzenden Maßnahmen des Regimes bis hin zur Einrichtung von Vernichtungslagern deutet Agamben als Elemente dieses auf Dauer gestellten Zustands der Suspension der Rechtsordnung, während der jüdische Jurist Kelsen noch die „Internierung von Personen unerwünschter Gesinnung, Religion oder Rasse in Konzentrationslagern“ als „Sanktion“ einer „Rechtsautorität“ versteht, die man zwar „auf das schärfste verurteilen“ mag, an deren Rechtscharakter aber nicht zu zweifeln sei. Gerade weil Agamben ganz unpositivistisch und unrelativistisch an die Menschenrechte glaubt, kann er im KZ nur eine Aufhebung des Rechts sehen, niemals seinen Vollzug.
Der Ausnahmezustand des NS-Regimes ist keine Ausnahme geblieben. Das Regieren mit Erlassen und Maßnahmen sei „zur geläufigen Praxis“ geworden. Die westlichen Republiken seien „nicht mehr parlamentarisch, sondern gouvernemental“: Die Exekutive handelt wie im Ausnahmezustand. Die Anordnungen des US-Präsidenten nach dem 11. September 2001 deutet Agamben als andauernde Suspendierung der internationalen und nationalen Rechtsordnung, die Probe aufs Exempel macht selbstredend Guantanamo: „Ja, der Ausnahmezustand hat heute erst seine weltweit größte Ausbreitung erreicht. Der normative Aspekt des Rechts kann ungestraft entwertet werden.“ Bedarfsweise werde alles Recht von den USA einfach ignoriert, das macht ihre Macht aus.
Das Buch Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Homo sacer Teil II, Band 1. Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, 113 Seiten, 9 Euro.