Wahlkampfzeiten. Kanzlerduell. Parteienstreit. Deutschland steht vor der Wahl. Die Frage ist nur: vor welcher? Inmitten der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte und der grundsätzlichen Verunsicherung über das Primat der Politik wäre ein wenig Orientierungshilfe von „oben“ für uns Normalsterbliche gar nicht so schlecht. Nur: Die Kanzlerin hat es zu ihrem Markenzeichen erhoben, eher zu verwalten als zu entscheiden. Und der Herausforderer wurde schon vor dem Beginn seiner Kampagne durch seine Nähe zu den Finanzeliten gelähmt. Das politische Talent bleibt in einem von ökonomischen Zusammenhängen geprägten Zeitalter nicht gerade zufällig eine Mangelware. Der Genius wurde inzwischen von der Wirtschaft abgeworben.
Schon Ernst Jünger hat in seiner berühmten Abhandlung D“ diese Eigenart unseres Zeitgeistes beschrieben und ihr tieferes Merkmal scharf bestimmt: Es sei die „Verknüpfung bedeutender Auftritte mit unbedeutenden Darstellern. Dabei sei das Ärgerliche an diesem Schauspiel die Verbindung von so geringer Höhe mit ungeheurer funktionaler Macht.“ Das Bonmot trifft auch heute ins Schwarze, wenn eine Handvoll, oft kurzfristig angelernte Politiker über das weitere Schicksal unseres Wohlstandes entscheiden oder aber junge Bundeswehrsoldaten zu Kampfeinsätzen an die Außenlinien unserer Wirtschaftszonen entsenden.
Natürlich muss man zur Kenntnis nehmen, dass eine Mehrheit der Deutschen ganz bewusst den verwaltenden Politikstil einer Angela Merkel schätzt und sich vor dem „charismatischen Politiker“ – zu Recht schon aus historischen Gründen – eher fürchtet. Die Frage nach dem Sinn und der Führungskraft des Politischen bleibt dennoch hochaktuell. Kann Politik die gewohnten Verhältnisse konservieren, den Veränderungsdruck, dem wir unterworfen sind, aufhalten oder – wenn sie es eben nicht mehr kann – zumindest helfen, sich in den neuen Verhältnissen würdig einzurichten? Das kümmert auch den Dichter.
Die – wie Jünger sie nannte – „große Weißung“ unserer irdischen Lebensverhältnisse, die Einebnung von Nationen, Kulturen und Religionen, Phänomene also, die uns von jeher ausmachten, müssen hier geradezu automatisch ins Blickfeld jedes mitdenkenden Autors geraten. Was läge also näher – in dürftiger Zeit –, als nach Inspiration und Unterscheidung bei den geistigen Eliten zu suchen, die unser Deutschlandbild bis heute prägen?
Wir werden hier keine klassische Parteinahme – mit allen ihrer eintrübenden Subjektivitäten – erwarten wollen, wohl aber wichtige Verständnishilfen für eine Zeit, die nicht nur einfache Lösungen verbietet, sondern auch – selbst wenn man diese Antworten zur Verfügung hätte – immer wieder an Grenzen der politischen Durchsetzbarkeit stößt. In den letzten Jahren gab es immer wieder unbequeme Interventionen unserer Schriftsteller.
Roger Willemsen hat für uns Leser mit seiner feinen Sprachbrillanz nicht nur eine Sehschule für Phänomene eingerichtet, sondern auch mit seinem Interviewband über Guantanamo als einer der ersten deutschen Denker die Verortung der Rechtlosigkeit im modernen Lager zur Sprache gebracht. Ein Günter Grass hat sich nicht nur mit dem Schälen der Zwiebel – also mit sich selbst – beschäftigt, sondern wurde auch mit seiner neulich ausgesprochenen Kritik an der israelischen Geopolitik hierzulande heftigem Ärger ausgesetzt.
In diese Reihe der provokanten Schriftsteller, die ihre Autorität und ihren Einfluss aus ihrer unbestreitbaren sprachlichen Meisterschaft ziehen, lässt sich sicherlich Botho Strauß einordnen. Wie kaum ein anderer deutscher Dichter wurde Strauß dabei – insbesondere seit seiner Veröffentlichung des Anschwellenden Bocksgesangs im Spiegel (1993) – mit dem politischen Attribut des „Konservativen“ versehen. Und wie kaum ein anderer Denker hat er gleichzeitig – über die langen Jahre seines Schaffens – die Relativität dieser Markierung aufgezeigt.
In seinem legendären Spiegel-Essay nimmt er es mit dem Zeitgeist auf, behandelt die Frage, ob das über uns gewölbte System noch Demokratie oder schon Demokratismus sei. Die Verhöhnung von Eros, Autorität und Kirche führte für ihn – zumindest damals – zu einer Orientierungslosigkeit, einer Schwäche vor dem Feind, die schon Züge der Selbstzerstörung hatte. Strauß setzte in dieser Not auf den Abgesonderten, der sich dem „Blödsinn“ stellt, der überall herrscht, aber in einer politisierten Gesellschaft eben auch Schutzgebiete braucht, um in Freiheit existieren zu können.
Strauß selbst lebt die Möglichkeit des Rückzuges, der nichts mit Passivität zu tun hat, sondern für ihn gerade die Bedingung für aktives Eingreifen ist, konsequent vor. Bis heute gibt er keine Fernsehinterviews, lebt eher scheu auf dem Lande; dort – wie er bei einem Besuch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zugibt – wo „in den letzten 20 Jahren nichts passiert ist“.
So leistet der Autor eine Art stillen Widerstand. Denn, so las man schon klagend im Bocksgesang, „das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte“. In einem seiner seltenen Interviews mit der ZEIT (2007) wurde der Autor gefragt, ob er sich denn an den Rand gedrängt fühlt. Die Antwort: „Wo anders soll man leben?“
Im Zentrum aller Werke des „großen Unbekannten“ steht die Beschreibung menschlicher Lebensverhältnisse, in die wir hineingeworfen sind – ob wir das wollen oder nicht. Strauß beschäftigt das Theater der Beziehungen und auch immer wieder die situative Wahrnehmung von Paaren und Passanten, die nichts anderes als ihr Verhalten sind. Dabei sind keine Sachbücher entstanden, die chronologisch Seite für Seite die Ergebnisse einer Entschlüsselung der Welträtsel anbieten wollen oder gar in Form eines endgültigen Fazits für eine Parteiung oder bestimmte Machenschaft werben. „Offenbar brauchen wir Weltabsichten oder –anschauungen, damit sie die Welt ad absurdum führen kann“, erteilte der Dichter bereits in seiner Aphorismensammlung „Vom Aufenthalt“ dieser Idee letzter Wahrheiten, zumindest denen, die der Mensch erfindet, eine klare Absage.
Wer sich im Werk von Botho Strauß zu Recht wiederfinden will, der muss seine Bücher immer wieder einfach aufschlagen, sich dem Wunder unserer Sprache stellen und den plötzlichen Erfahrungen, die er als aufmerksamer Leser irgendwo in dieser Dichtung machen wird. Ohne das Empfangen von Inspiration und den geheimnisvollen Schlüsseln ist das sprachlich einmalig erfasste – manchmal aber auch komplexe – oft unzugängliche Geschehen nicht in ihre innere Einheit zu führen. Der Dichter diktiert uns so, was man sich eben sagen lassen muss, um sich zwischen „Weltlichem und Sterblichen“ harmonischer einzufügen.
Das neueste Buch von Botho Strauß (Lichter der Toren. Der Idiot in seiner Zeit) verliert sich dabei nicht nur im Schöngeistigen, sondern hat durchaus konkrete, verstörende politische Sentenzen. Für manchen wird es sich skandalös lesen, wenn sich Strauß offensiv gegen den Fundamentalismus der „Breite“ stellt, die alles zuungunsten der Höhe vereinnahmt, gegen einen Populismus andenkend, der keine Bücher mehr nötig hat, weil er alles in Bestände von Informationen verwandelt, in sich Zensur ausübend, weil damit jedes andersartige Denken systematisch überflutet wird. „Von Massenbewegungen fasziniert“ schreibt Strauß „unterschlägt der intellektuelle Götzendienst vor dem Populären die banale Erfahrung, daß diese Anrufung, immer der Quote nach, stete Anpassung nach unten verlangt“.
Der Drang nach unten, der unsere gesellschaftlichen Verhältnisse heute prägt, entwertet so auch den politischen Inhalt, denn – so Strauß – die „rhythmische Wiederholung ein und derselben Phrase bleibt ohne Wirkung“. „Er sei nicht gegen die Demokratie, aber gegen die Demokratisierung aller Lebensbereiche“, bekennt der Schriftsteller an anderer Stelle. Damit nicht genug. „Wir müssen neue unzugängliche Gärten bauen! Zurück zur Avantgarde!“, lautet eine forsche Forderung in den „Lichtern der Toren“.
Da Strauß Heideggers Sprachphilosophie bejaht, mit ihrer Erkenntnis, dass die Sprache spricht, also sich uns fortlaufend offenbart, ist die Nähe und Ferne zur Göttlichkeit ein wiederkehrendes Zentralthema seines Dichtens. Auch hier opponiert er offen gegen den Zeitgeist, der die Prioritäten unseres Daseins längst verdreht hat. „Die unsinnigen Utopien des Aufklärungszeitalters haben verhindert, dass wir unsere Jenseitsvorstellungen pflegen und verbessern“, hieß es bereits in Vom Aufenthalt. Ein Denken, dass sich nur im Säkularen und nur im Politischen bewegen will, ist für Strauß gegen den Sinn und die Einheit alles Geschöpften verfasst und muss – weil nur auf die Horizontale angelegt – geradezu die Übersicht verlieren.
Da überrascht es nicht, dass auch der Islam für den Schriftsteller nicht etwa identitättiftender Feind oder gar Gegenstand ideologischer Abgrenzung ist, sondern eher die Frage nach der eigenen Gestalt verkörpert und damit etwas ist, was bei genauerem Hinsehen auch im positiven Sinne „abfärben“ kann. So ist Strauß souverän genug, einmal den Schleier zu heben und sich den Muslimen und ihren „sittlichen Freiheitsbeschränkungen“ vorsichtig interessiert zu nähern. Kein Wunder: Große Dichtung und geistige Provinzialität schließen sich eben aus.
Der „Idiot“ jedenfalls, so wie Strauß ihn zu deuten sucht, ist in der Welt der Informierten, die den kleinsten gemeinsamen Nenner bilden, heiter, ungerührt und lebt „ohne eine Regung von Zukunftsunruhe, ohne Angst“. Er ist ein neuer Typus, der sich nicht eindeutig fassen lässt; der eben Idiot, manchmal auch Vollidot ist. Sei es auch nur, weil die Komplexitäten des modernen Lebens zu verwirrend sind, um in Blei gegossene Zustände überhaupt zuzulassen. Das passt ins hier und jetzt. Der Anspruch auf Beweise, oder Wahrheit, die heute nach Gutdünken aus den zahllosen Mosaiksteinchen aus dem Internet gebildet werden und – wie wir in Syrien erleben – sogar im Extremfall zu Kriegen führen können, müssen ja auch für einen politischen Beobachter geradezu „idiotisch“ wirken.