Die Muslime in Weimar – ein „Happening“, eine „Provokation“ oder auch eine denkbare Quintessenz ihrer Präsenz in Deutschland? Nachdem wir in den 1990er Jahre einige Jahre in der Stadt der deutschen Klassik verbracht haben, vertrete ich natürlich engagiert das Letztere. Schon seit Jahren lädt die Islamische Zeitung immer wieder zu Seminaren und Stadtführungen ein. Am letzten Wochenende ging es um das Thema „Muslimisches Dasein in Deutschland. Eine Selbstfindung“. Besonders spannend war dabei, dass wir mit Feridun Zaimoglu und Dr Eberhard Straub einen Schriftsteller und einen Historiker als Referenten gewonnen haben.
Da die Debatte über die Muslime in den letzten Jahren meistens im Rahmen der „politischen Debatte“ geführt wurde und fest in den Händen ihrer Akteure ist, war es in diesem Feldversuch wichtig, auch den Beitrag Intellektueller, Schriftsteller und Historiker zu hören. Besonders eindrucksvoll fand ich dabei den Beitrag Zaimoglus, der so ungeschminkt wie provokant die alltägliche Lage der Muslime beschrieb und daran erinnerte, dass unsere eigentliche Identitätsbildung im „Haushalt“ beginnt.
Im Kern sind es die Verhältnisse „zu Hause“, die unseren Geist entscheidend beeinflussen. Die Frage, ob wir frei agieren können, hängt dabei auch von unseren ökonomischen Verhältnissen ab und – nicht zuletzt – ist es auch die Beziehung von Mann und Frau, die uns hier prägt.
Hier herrscht oft eine gefährliche Sprachlosigkeit. Wer in einer kleinen Wohnung den herrischen „Kalifen“ oder unbarmherzigen „Puritaner“ beherbergen muss, wird sich kaum im positiven Sinne entfalten können. Überhaupt ist es das solidarische Verhältnis zwischen Männer und Frauen, das für das innere und äußere Gleichgewicht sorgt und nicht zuletzt auch das Vorbild für unsere Kinder liefert. Nicht Isolation und Wahn darf ihre Atmosphäre prägen. Sie sollten dem Grund nach auch nicht das „Subjekt“ oder „Ich“ als den Mittelpunkt ihrer Existenz wählen.
Der Historiker Eberhard Straub wiederum erinnerte an die jahrhundertelange Tradition des „leben und leben lassen“, die Unvorstellbarkeit die Vernichtung der anderen Daseinsform als ein Ziel zu setzen, überhaupt die Ferne der großen Zivilisationen von der Gewalt totalitärer Raumbeherrschungskonzepte, die es zum Beispiel im arabischen Raum ermöglichte, dass sich Zivilisationen nebeneinander und miteinander entwickeln konnten.
Auf seiner eindrucksvollen Stadtführung hat dann auch Sulaiman Wilms den sichtbaren Bruch der Weimarer Traditionen in der Berührung mit den modernen Ideologien anklingen lassen. Natürlich gehört hierher auch die kulturelle „Vereinnahmung“ der Stadt für einseitige Welterklärungsmodelle. Auf einer Wiese, die Goethe mit Eckermann als Ort für ein fröhliches Frühstück wählte, steht heute das ehemalige KZ-Buchenwald.
Im eigenen Beitrag ging es mir darum, den Begriff der „Identität“ in seiner Starrheit aufzubrechen. Wir gewinnen und verlieren immer wieder, zumindest wenn wir unterwegs sind, neue Identitäten. Wir sind Autofahrer, Konsumenten, Sportzuschauer, wir üben Berufe aus oder wir sind auch einfach niemand. Natürlich ringen wir naturgemäß im Hier und Jetzt – in der Realität des global erfolgreichen, technologischen Projektes –, unsere Eigendefinition nicht nur auf die Ebene des „Users“, „Datenträgers“ oder „Konsumenten“ sinken zu lassen.
Insoweit der Philosoph Martin Heidegger auf die Unterscheidung von „Verfallenheit und Eigentlichkeit“ hinweist, dann nicht um eine moralische Wertigkeit dieser Zustände einzuführen, sondern um auf die eröffnende Perspektive hinzuweisen, dass – wenn auch mit geistiger Anstrengung – wir die völlige Verfallenheit an die Welt umkehren können und damit die Rückbesinnung auf das Dasein, die eigene Sterblichkeit und die Frage nach dem Sinn überhaupt sich wieder ermöglicht.
Es gibt natürlich auch in der Sphäre der Muslime eine spannende Debatte, wer wir sind. Gerade der Begriff „deutscher Muslim“ regt dabei den Widerspruch an, wenn auch oft auf Grundlage groben Missverständnisses, dass hier „deutsch“ im biologischen Sinne gemeint sein könnte. Hier ist insoweit die kategorische Feststellung angebracht, dass der Begriff des „deutschen Muslims“ natürlich allein auf das Sprachvermögen bezogen ist. Mit anderen Worten: Wer die deutsche Sprache spricht (und es sein will), ist natürlich Deutsche(r) in diesem Sinne.
Natürlich ist der Begriff der Deutschen im politischen Sinne zu Recht zu problematisieren. Hier wird oft vergessen, dass Deutschland erst seit dem späten 19. Jahrhundert eine Einheit darstellt und oft genug die „Erfindung der Deutschen“ mit dem Mythos der gemeinsamen Herkunft verknüpft wird. Natürlich teilen wir als Muslime, auch wenn unsere innerste Daseinsform die nationale Identität gerade überwindet, die Sorge um den Verlust politischer Identität, im Sinne von Bürgerrechten.
Ohne die staatliche Identität droht uns nicht nur das „nackte Leben“, sondern auch der Verlust entsprechender Rechtsfähigkeit, die unsere Bürgerrechte im Kern ausmachen. Die Menschheit verfügt nicht über einen Klageweg. Der modische Begriff des „Verfassungspatriotismus“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass unsere politische Verfassung heute keineswegs stabil ist, sondern sich im Bereich von „Finanz- und Sicherheitstechnik“ vielmehr in einem dramatischen Wandel befindet.
In tiefere Sphären, weil über die Begrenzungen und Einschränkungen des Nationalen hinausweisend, führt für mich die Beschäftigung mit dem Werk Goethes. Der Begriff des Goetheaners wäre bei der Selbstfindung durchaus wegweisend und wird von mir nur aus Respekt vor dem großen Werk, das mir leider nur in kleinen Teilen bekannt ist, nicht wirklich beansprucht.
Zweifellos symbolisiert Goethe den geschichtlichen Berührungspunkt zwischen „Projekt Mensch“ und „Projekt Technologie“. Im Faust erfährt die schicksalshafte Erfindung der Finanztechnologie, im Kern die Schaffung von endlos reproduzierbaren Papiergeldmengen, seine künstlerische Umsetzung. Goethe ahnt bereits, dass die „wundersame Geldvermehrung“ die Schaffung imperialer Ideologien – heute imperiale „Organisationen“ – begünstigt und das menschliche Projekt mit größter Gewalt in seinen Sog ziehen wird.
Es mag kein Zufall sein, dass Goethe auch in die Nähe des Islam gerät. Seine Vorliebe für die prophetische Losung „bevor Du Dies, nicht hast, dieses stirb und werde“ zeigt nicht nur Goethes Begeisterung für die Verwandlung an sich, sondern auch sein Glaube an das schöpferische Potential der Ich-Überwindung.
Zweifellos ist im Kern eines jeden gläubigen Muslims die Sehnsucht nach Auslöschung im Einen lebendig. Maulana Rumi hat seine „Selbstfindung“, besser „Selbstverlust“, in einem seiner Vierzeiler porträtiert: „Ich bin der Sklave des Qur’an so lange ich lebe. Ich bin Staub auf dem Wege Muhammads, des Auserwählten. Wenn jemand meine Worte auf eine andere Art und Weise auslegt, dann bedauere ich ihn und dessen Worte.“
Es wird über das politische Klima Deutschlands mitentscheiden, ob diese Art des Bekenntnis des Liebenden künftig als „Islamismus“ diffamiert wird.
Es steht für mich fest, dass eine Debatte über die Muslime, die geschichtslos ist, zu keinem anderen Ergebnis als der Feststellung der Irrelevanz dieser großen Lebenspraxis führen muss. Extremismus im Islam ist ebenso eine Form der praktizierten Geschichtslosigkeit. Tieferes Verstehen des Islam ist ohne eine genaue Vergegenwärtigung des Lebens des Propheten und der Geschichte seiner Gemeinschaft unmöglich. Naturgemäß sind Schriftsteller und Historiker also berufen, diese Geschichten der Muslime nachzuerzählen, so wie der muslimische Jurist nötig ist, die Eigenständigkeit und Eigentümlichkeit unserer Begriffe zu bewahren.
Natürlich sind die Eigendefintionen „Deutscher, Muslim Goetheaner“ somit kein Widerspruch, sondern existieren nebeneinander in ein schöpferischen Spannungsfeld. Wer allerdings zu reisen pflegt – sei es nach Weimar, Granada oder nach Mekka –, wird in einem erweiterten Heimatbegriff zu Hause sein und jede Form des „Nationalismus“ als eine beschämende Einschränkung erfahren. Mehr noch, das einfache Muslimsein wird jedem Reisenden genügen.