Im Logbuch unserer Zeit werden vielleicht eines Tages Erhebungen und Statistiken, wie zum Beispiel die aktuellen Berichte zur globalen Vermögensverteilung, erstellt von der Nicht-Regierungsorganisation Oxfam, auftauchen. Die neuesten Berechnungen haben die Experten zum Auftakt des Weltwirtschaftsforums in Davos veröffentlicht. Der Bericht illustriert, wie sich die Lücke zwischen Arm und Reich weiter vergrößert und wie Konzerne und Superreiche ihre Gewinne erhöhen, indem sie Löhne drücken und Steuern vermeiden. Die Fakten sind ernst: 82 Prozent des globalen Vermögenswachstums gingen im letzten Jahr an das reichste Prozent der Weltbevölkerung, während das Vermögen der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung stagnierte. Das reichste Prozent besitzt damit weiterhin mehr Vermögen als der gesamte Rest der Weltbevölkerung.
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Die Ausführungen beschreiben ein globales Problem, jenseits der Grenzen nationaler Souveränität. Ein wichtiger Grund für die extreme soziale Ungleichheit ist nach Ansicht der Organisation die Steuervermeidung von Konzernen und Superreichen. Das reichste Prozent der Bevölkerung drückt sich durch Steuertricks um Steuerzahlungen von etwa 200 Milliarden US-Dollar pro Jahr. „Entwicklungsländern entgehen durch die Steuervermeidung mindestens 170 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen pro Jahr – mehr als die gesamte weltweite Entwicklungshilfe (145 Milliarden US-Dollar jährlich)“, liest man in dem Bericht.
„Den Preis der Profite zahlen Milliarden von Menschen weltweit, die zu Löhnen, die nicht zum Leben reichen, schuften müssen und keinen Zugang zum öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystem erhalten“, fasst Kampagnenleiter Jörn Kalinski die Lage nüchtern zusammen.
Es ist absehbar, dass der Bericht einen Expertenstreit über die Deutung der Bilanz einer weltweiten Ökonomie auslösen wird. Die Einen werden es weniger dramatischer sehen, die Anderen werden die Lage dramatisieren. Sicher scheint nur eins: Es geht ungerecht zu auf dieser Welt und kein Land der Welt wird sich künftig den Folgen des evidenten Krisenszenarios entziehen können. Mehr noch, das Problem, die surreal wirkende Umverteilung des globalen Vermögens, trifft uns auch, unabhängig wo wir leben, in der jeweils eigenen Daseinsform. Unsere Existenz, die Max Ernst „als ein einheitliches Feld, das das historische Ereignis, die ausgelebten Leidenschaften und die natürliche Welt des Wachstums, der Produktion und des Verfalls miteinander verbindet“ definierte.
Unsere Lage zeigt auch einen anderen Zusammenhang neu auf: das Verhältnis von Psychologie und Politik. Die Regierenden der Welt vermitteln eine Losung, die der ehemalige US-Präsident Barack Obama mit dem Slogan „Yes, we can!“ berühmt machte. Alles ist möglich, jedes Problem kann gelöst werden, wollte der Politiker damals sagen. Inzwischen wurde er, wie wir wissen, von einem neuen Präsidenten abgelöst, dessen psychologischer Status und sein Verhältnis zur Wahrheit überhaupt öffentlich diskutiert werden.
Im Gegenentwurf zu der These der Lösbarkeit aller ökonomischen und ökologischen Fragestellungen unserer Zeit bewegen sich breite Bevölkerungsteile in der Logik des Umkehrschlusses. „No, we cannot!“ ist die unausgesprochene Klausel derjenigen, die politisch aufgegeben haben und ihr Heil in der Kurzweil des Genusses suchen. Hinzu kommen neurechte Parteien, die ihren Anhängern die Phantasie des Zurück ins Gestern vorschlagen und damit die Idee propagieren, dass globale Probleme sich durch eine Wiederbelebung der antiquierten Idee des Nationalstaats bewältigen lassen.
Es gehört also keine übergroße Neigung zum Pessimismus, um sich gerade von den massenpsychologischen Wirkungen des Politischen, zwischen den Maximen „alles ist möglich“ oder „alles ist unmöglich“, zu fürchten. Die Reflexion auf die reale Lage sollte aber mindestens, so der slowenische Philosoph Slavoj Zizek, einerseits zu einem „Mut in der Hoffnungslosigkeit“ führen, andererseits aber in die Notwendigkeit, die humane Situation völlig neu zu bedenken.
In erster Linie gilt es hier zunächst, die angebotenen Diskurse rund um das Thema unserer gesellschaftlichen Situation zu reflektieren. Sie sind meist, so der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan, „universitär“ (Wissenschaft) oder „hysterisch“ (Breaking News) geprägt, gleichzeitig aber in das dominante, kapitalistische System integriert. Das Subjekt, Ergebnis des Diskurses, dient dem Diskurs, meist ohne eine Möglichkeit zu sehen, eine eigenständige Debatte zu stiften, geschweige denn am Horizont eine Alternative anzubieten. Jede mögliche Alternative, die heute in eine Zone außerhalb des herrschenden Systems führen will, erscheint entweder als eine neue Form der Ideologie oder aber als eine Utopie.
„Betrifft uns Muslime dieses komplizierte Szenario?“, mag man als einfacher Gläubiger, der seinem Ritus folgt, fragen. Die Antwort kann nur ja heißen. Zunächst betreffen uns alle Symptome des modernen Lebens, von der Einsamkeit bis zum „Burn Out“. Wir beobachten zudem Ideologen aus den eigenen Reihen, die sich dem System mit ideologischer Gewalt entgegenstellen wollen. Und wir müssen auch zugestehen, dass kein muslimisches Land auch nur den Hauch einer alternativen Wirtschaftsordnung, falls wir dies als Grundproblem anerkennen, anbietet. Gerade in den muslimischen Ländern entdecken wir vielmehr in gleichem Maße die Symptome unserer Zeit.
Psychologische Probleme sind dabei der islamischen Zivilisation nicht unbekannt. Ein erstaunliches Buch eines muslimischen Gelehrten aus dem 9. Jahrhundert, („Nahrung für die Seele“), Abu Zayd al-Balkhi, gibt darauf faszinierende Hinweise. Al-Balkhi begründete de facto eine der ersten Schulen der Psychotherapie und beschreibt in seinem Werk menschlich-allzumenschliche Symptome wie „Angst, Vereinsamung, Depression oder Ärger“. Er entdeckt psychosomatische Kontexte und verfasst im Grunde eine Lehre gegen das negative Denken: „Das meiste, was Dir Angst macht, wird nicht eintreten.“
Im Kern rät der Gelehrte, das Symptom ernst zu nehmen, allerdings mit einer Gewissheit: „Wir sollten an der Überzeugung absolut festhalten, dass Allah keine Krankheit des Körpers oder der Seele erschaffen hat, ohne gleichzeitig ein Gegenmittel zu offenbaren.“ Abu Zayd al-Balkhi schließt sein Buch mit der zeitlosen Empfehlung, dass grundsätzliche Heilung meist schon ein enges soziales Feld und die Begegnung mit Menschen, die Wissen haben, versprechen.
Sollten wir davon ausgehen, dass es eine idealere Zeit für muslimisches Gemeinschaftsleben als die heutige gab, eine vergangene Realität, die damals durch wichtige islamische Institutionen wie Stiftungen oder Märkte geprägt war, sollten wir nicht so naiv sein zu glauben, dass es ein Paradies ohne Symptome war. Natürlich sind diese Zeiten nicht mit den heutigen, gerade was die psychologischen Wirkungen des modernen Lebens angeht, vergleichbar. Wir kehren insoweit zum Beginn dieses Artikels zurück.
Der Unterschied besteht – offensichtlich – vor allem auch in der heutigen ökonomischen Wirklichkeit. Das Phänomen trifft uns allerdings nicht unvorbereitet. „Riba“, hier als umfassender ökonomischer Sachverhalt verstanden, mitsamt seiner Auswirkung als Syndrom, ist in der islamischen Lehre und der Offenbarung bereits ausführlich beschrieben. Hier sollten wir die folgende Behauptung zur Diskussion stellen: In dem Maß, in dem die gesellschaftlichen Symptome der Moderne in ihrer ganzen Wucht aufkamen, geriet das islamische Wirtschaftsrecht in Vergessenheit.
Vielleicht sehen wir gerade in der Vermittlung der Lehre zu diesem Thema, wie wir sie heute erfahren, einen weiteren Schlüssel. Islamische Theologie ist heute nicht zuletzt eine Facette des universitären Diskurses, ohne die Grundfrage der ökonomischen Situation und ihrer spirituellen Wirkung auf die Gläubigen noch ausdrücklich zu bedenken. Hierher gehört auch ein neuer Typus des Lehrers, der den Pessimismus und Pragmatismus unserer Zeit teilt: „No, we cannot!“
Hier trifft sich also die psychologische Wirkung mit dem politischen Credo unserer Zeit. Gerade die muslimische geprägte Politik hat sich beispielsweise von der Frage nach der Etablierung der Zakat verabschiedet, paradoxerweise das einzige Politikum, zu dem die authentische Lehre ausdrücklich verpflichtet. Die Zakat ist nicht nur eine mehr oder weniger gefallene Säule unserer Zeit, sondern auch das Symbol, das uns mit unserer ökonomischen, globalen Lage verbindet.
Wer die Regeln der Zakat studiert, wird nicht nur automatisch die Verpflichtung der Reichen zur Gerechtigkeit vernehmen, sondern sich auch mit der Geldfrage, bis hin zur Ethik der Geldproduktion, kurzum den Zahlungsmitteln, mit denen die Zakat bezahlt werden kann, beschäftigen müssen. Es ist kein Zufall, dass wir hier einem Mangel der Ausbildung begegnen und uns für die Aufklärung über den angesprochenen Bedeutungszusammenhang die Experten fehlen.
Es gehört, aus spiritueller Sicht, zum Paradox der muslimischen Situation, dass sich in unseren Reihen ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit verbreitet hat, als sei ein Kernelement der islamischen Praxis weder relevant noch umsetzbar. Wie sagt aber Goethe so schön: „Den lieb‘ ich, der Unmögliches begehrt.“