Italien, seit Jahrhunderten ist es für die Deutschen der Sehnsuchtsort schlechthin. Noch immer gehört die „italienische Reise“, ein Bericht Goethes über seine berühmte Italienreise, zum Reisegepäck vieler Urlauber. Der Dichter war in den Jahren 1786-1788 aus der Enge Weimars in südliche Gefilde geflüchtet. Sein politischer Aufstieg in der kleinen Fürstenmetropole und die Ausfüllung mehrere Regierungsämter hatten Goethe ausgelaugt, seine künstlerische Ambitionen unter dem Engagement gelitten. Der Dichter erlitt einen Burnout und suchte südlich der Alpen nach der Heilung seiner Existenz. „Schweigen vor Glück“, möchte er als Italienwanderer in dem Augenblick, da endlich die kaum zu bändigende Begierde nach Rom zu kommen gestillt ist. „Schauen, Staunen, Schweigen“ bestimmten nun die Tagesabläufe in Italien und Goethe empfand seine neue Umgebung als „wahr und seiend“.
In der Tradition der antiken Philosophie genoss der Dichter die Übung, das Bewusstsein auf den Augenblick und auf das gegenwärtig Hier-Seiende zu richten. Das Glück Goethes in Rom, Neapel und Palermo prägte letztlich auch seinen pessimistischen Blick auf die Moderne, die, nach seiner Sicht, einen anderen Zeit- und Geschichtsmodus etabliert, dessen Kennzeichen die Aufhebung der Gegenwart ist. In der berühmten Faust-Dichtung verarbeitete Goethe dieses Phänomen.
Faust schließt einen Pakt mit Mephistopheles mit dem Bewusstsein, dass er, trotz aller Machenschaften und Angebote des Teufels, niemals „Augenblick verweile“ sagen werde. In diesem Pakt, so beschreibt es Michael Jaeger, diktiert Faust das moderne Gesetz der permanenten Revolution, die keinen Augenblick zur Ruhe, nie ans Ziel gelangen darf, die immer auf der „Flucht nach vorn“ ist.
Wie wir heute wissen wurde Goethe trotz seines Glückes in Italien nicht zum Aussteiger. Auf Dauer lies sich das Abenteuer schlicht nicht finanzieren. Er kehrt zurück. In einem Gespräch mit Eckermann im Oktober 1828 blickte der Dichter zurück:
„Ja, ich kann sagen, daß ich nur in Rom empfunden habe, was eigentlich ein Mensch sei, – Zu dieser Höhe, zu diesem Glück der Empfindung bin ich später nie wieder gekommen, ich bin, mit meinem Zustande in Rom verglichen, eigentlich nachher nie wider froh geworden. Doch wollen wir uns nicht melancholischen Betrachtungen hingeben.“
Auch heute wird jeder Reisender die Gefühlsregungen Goethes verstehen können. Wer kennt es nicht, das Gefühl der Melancholie, wenn wir aus dem Süden wieder in das kalte Deutschland zurückkehren müssen? Bis heute finden wir in den Beschreibungen deutscher Dichter einen Ausdruck für die Faszination des Reisens. Erst mit der Erfahrung der anderen, meist südlichen Hemisphäre erschließt sich für diese Denker ihr ganzes Sein.
Berühmt sind die Briefe Rainer Maria Rilkes, der in Andalusien den Qur’an liest und in Nordafrika Moscheebesucher beobachtet. Rilkes Erfahrung des Weltinnenraums, erschließt sich ihm erst vollständig durch den Besuch bestimmter Orte. Die Offenbarungen der Sprache empfängt er, wenn er reist und in Bewegung bleibt. Sein Hauptwerk, die Duineser Elegien fallen ihm im Schloss Duino an der Adria zu. Überliefert ist Rilkes Ausspruch, als er von der Insel Capri aus die gegenüberliegende Küste Amalfis betrachtet, dass nur derjenige, der einmal hier gestanden habe, überhaupt verstehen könne, was Europa ist.
Rilke spricht hier einen wahren Kern aus. Natürlich gehört zu einer Erfahrung Europas auch der Besuch berühmter Städte wie London, Paris oder Rom. Gleiches gilt übrigens auch für die Annäherung an den Islam in Europa. Viele Vorurteile, die heute das Bild über die Muslime in Europa prägen, beruhen auf einem Mangel an direkter Begegnung mit ihrer sozialen und historischen Lebenswirklichkeit.
„Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben“, schrieb einst Alexander von Humboldt über die Gefahren von Ferndiagnosen.
Tatsächlich wird man ohne einen Besuch von Städten wie Sarajevo, Córdoba oder Granada kaum nachvollziehen können, was die Präsenz der Muslime in Europa mit sich gebracht hat.
Wem bestimmte Orte in dieser Sammlung fehlen, kann man aber auch auf berühmte Reiseliteratur zurückgreifen und eben auf diese Weise seine Erfahrungen machen. So hat zum Beispiel Cees Nooteboom seine wunderbaren Reisen durch die islamische Welt ausführlich beschrieben. Seine Aufzeichnungen über Granada oder Cordoba gehören nicht zur großen Literatur, sie zeigen auch den tiefen Blick des Reisenden auf die faszinierende Begegnung der Weltreligionen in Andalusien. Autoren wie Nooteboom stehen in der Tradition, die das Reisen nicht nur als Zeitvertreib, sondern als eine völkerverbindende Aktivität angesehen haben.
Natürlich sind es gerade auch Orte wie Granada, die das veränderte Reiseverhalten unserer Zeit deutlich machen. Die Alhambra kann man heute nur noch besuchen, wenn man sich monatelang vorher Online anmeldet. Tourismus ist heute längst ein Massenphänomen. Mit rund 55 Millionen Personen, die eine Reise von mindestens fünf Tagen unternommen haben, lag die Zahl der Urlaubsreisenden in Deutschland im Jahr 2018 so hoch wie nie zuvor. Millionen von Reisenden aus aller Welt sind heute ein Nebeneffekt der Globalisierung, die nicht zuletzt auf der Beschleunigung aller Verkehrsverbindungen beruht.
„Das größte Unheil unserer Zeit“ sei aber, beklagte Goethe einst in den Maximen und Reflexionen, „daß alles veloziferisch“ zugehe. Er befürchtete, dass in der Moderne der Mensch nur noch Momente verspeise und – obwohl der moderne Reisende zwar rastlos unterwegs ist – er doch zu keiner echten Erfahrung von Ort und Zeit mehr fähig sei. Vermutlich gehört hierher auch das Phänomen der Bilderflut, den Versuch des Reisenden das Erlebte nicht mit dem Herzen, sondern mit der Kamera einzufangen.
Die Rückkehr zur eigentlichen Erfahrung des „Schauens und Staunens, die das Reisen ursprünglich ausmachte und seinerzeit Goethes Reisen prägten, zeigt sich heute in neuen Trends des Reisens. Bildungsreisen sind heute nicht zufällig beliebt. Es setzt sich das Bewusstsein durch, dass es beim Reisen eigentlich um innere Erfahrungen oder um Erweiterung des Erfahrungsschatzes und nicht nur um die achtlose Entfernung vom Ursprungsort gehen sollte.
Inzwischen wird die Erfahrung der Entschleunigung selbst, als ein „Urlaub“, als ein Gegenpol zu der ansonsten eng getakteten Zeiterfahrung begriffen. So ist auch das Wandern, als eine langsame und umweltfreundliche Variante des Reisens, heute wieder zu einer beliebten Alternative zu anstrengenden Fernreisen geworden. Hier erklärt sich auch der aktuelle Erfolg der literarischen Beschreibungen von Pilgerreisen zu Fuß. Der Entertainer Hape Kerkeling schrieb 2006 mit „Ich bin dann mal weg“ ein Buch über seine Erfahrungen auf dem Jakobsweg. Der Reisebericht ist ein Bestseller und eines der erfolgreichsten Bücher der letzten Jahrzehnte überhaupt. Der Erfolg des Buches erklärt sich nicht nur aus der verbreiteten Sehnsucht nach spiritueller Erfahrung, sondern auch aus der Suche nach der verlorenen Zeit.
Im Islam ist das Reisen hochangesehen. Das Pilgern nach Mekka gehört zu den Säulen der muslimischen Lebenspraxis. Jeder Muslim sollte zumindest einmal in seinem Leben diesen Ort erreichen. Millionen von Pilgern, die sich meist als Flugreisende auf den Weg gemacht haben, prägen heute das Bild an den heiligen Stätten. Vergleicht man Bilder der Pilgerreisen vor einigen Jahrzehnten mit der heutigen Realität, dann deuten sich auch hier auf fundamentale Veränderungen an. Während der Ritus an sich unverändert geblieben ist, haben sich Rahmenbedingungen in den letzten einhundert Jahren massiv geändert. Rund um die heiligen Bezirke hat sich die Atmosphäre radikal verändert und riesige Hotelanlagen und moderne Infrastruktur prägen den Eindruck. Davon unbeeindruckt wirkt aber immer auch die Grunderfahrung des Pilgerns, die das Leben selbst als eine große Reise deutet. Die Pilgerreise gehört so zu den Höhepunkten muslimischer Erfahrung. Der Prophet sagte:
„Wer sein Haus auf der Suche nach Wissen verlässt, befindet sich auf dem Wege Allahs.“