Seit Wochen und Monaten richten sich unsere Blicke nun auf die verheerende Lage in Aleppo. Der Blick in den Abgrund, der durch das Fernsehen zur alltäglichen Gewohnheit wird, hat auch jenseits der Schlachtfelder Folgen. Zehntausende Jugendliche werden in aller Welt mit den schrecklichen Bildern aus der umkämpften Stadt konfrontiert. Der Krieg und seine Folgen politisieren das Denken dieser jungen Menschen und bergen zweifellos ein latentes Radikalisierungspotential.
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Nicht zufällig beklagt Olivier Roy in einem Interview mit Qantara.de einen gefährlichen Trend, den man heute in der Jugend Europas beobachten kann. „Das Risikoverhalten junger Leute und insbesondere die Faszination für Suizid- und Gewaltverhalten haben stark zugenommen“, stellt der Gelehrte fest. Es ist also schlicht eine Illusion, zu glauben, dass das Gemetzel vor den Türen Europas langfristig keine geistigen Konsequenzen für unsere westlichen Gesellschaften haben wird.
Es gehört zu den Abgründen der Moderne, dass wir immer wieder Zeugen barbarischer Auseinandersetzungen werden, parteiische Medienberichte uns in unserer Unterscheidungsfähigkeit zwischen „Guten“ und „Bösen“ zweifeln lassen und wir als – notgedrungen – passive Beobachter unsere moralischen Standards nicht mehr verteidigen können. Die Folge ist ein weit verbreitetes Gefühl der Lähmung, die auch die Friedensbewegung in Europa längst zu einer marginalen Größe hat werden lassen. Längst vergessen sind die Zeiten, als eine starke Friedensbewegung Zehntausende BürgerInnen in den Hauptstädten Europas mobilisieren konnte. Die an den aktuellen Konflikten beteiligten Regierungen sind so kaum noch dem Druck der Straße und dem Ruf nach Frieden ausgesetzt.
In Syrien ist die Lage kompliziert, es handelt sich längst um einen Stellvertreterkrieg der Groß- und Regionalmächte. Es geht dabei weniger um die Verteidigung von Menschen- und Bürgerrechten, als um Geopolitik und Wirtschaftsinteressen. Bei aller Offensichtlichkeit der brutalen Attacken des Assad-Regimes gegen die eigene Zivilbevölkerung, erinnern Experten wie Michael Lüders wohl zu Recht daran, dass „alle Kriegsparteien viel Blut an den Händen haben“.
Mit anderen Worten, keine Seite beachtet die Restriktionen des humanitären Völkerrechts und – soweit Muslime kämpfen – auch nicht die diesbezüglichen Beschränkungen des islamischen Rechts. Vergeblich rief der UN-Vertreter O’Brien die Parteien immer wieder auf, den „sinnlosen Tod und die Verwundung Hunderttausender Zivilisten und die unvermeidliche Zerstörung Aleppos zu verhindern, ehe es zu spät ist“. Es gehört zum nihilistischen Klima, welches diesen Konflikt umgibt, dass alle Parteien gleichermaßen glauben, dass ihr jeweiliger Zweck die eingesetzten Mittel heilige.
Wieder einmal gilt es vor der moralischen Beurteilung der Akteure, zunächst noch einmal die allgemeinen Folgen der Wesensveränderungen moderner Kriegsführung zu reflektieren. Die Hegung des Krieges und der Schutz der Zivilbevölkerung, die Idee des alten Völkerrechts, ist in Zeiten absoluter Lufthoheit nahezu unmöglich geworden. In seinem berühmten Buch „Il Domino dell’Aria“ hat Giulio Douhet die unmittelbare Folge von Luftkriegen auf den Punkt gebracht. „Die Unterscheidung von Zivilisten und Soldaten“, so schrieb er im Jahr 1921 „wird hinfällig“. Ein Phänomen, das bis heute alle Luftangriffe, unter welchen weltanschaulichen Vorzeichen sie auch betrieben werden, diskreditiert. Weitere Folgen werden mit der fortschreitenden Technisierung der Angriffsmethoden eintreten, sie besteht im Kern aus der denkwürdigen Symbiose von Maschine und Mensch.
Die angreifende Person wird dabei nicht nur Teil einer Maschinerie, sie gibt auch zunehmend die Verantwortung für die Angriffe an den technischen Apparat ab. Heute sind es Computerprogramme, die über Leben oder Tod entscheiden, bis hin zu Stationen, an denen Techniker an „Joysticks“ Angriffe ausführen, die auf ihren Monitoren nur noch als Computerspiele erscheinen. Die Idee präziser, technisch lautloser Operationen aus der Luft soll den Zivilgesellschaften zu Hause das Gefühl geben, nicht wirklich am Krieg beteiligt zu sein. Die Idee eines Schlachtfeldes, das nicht mehr von Menschen, sondern von Maschinen beherrscht wird, führt dann zur finalen Vision einer Kriegsführung ohne eigene Verluste. Philosophisch betrachtet hat der Ansatz aber seine Tücken. „Die Drohnenlenker sind vom Widerspruch einer Gesellschaft durchdrungen, die sich nach außen hin im Krieg befindet, aber im Innern lebt, als wäre Frieden“, deutet Gregoire Chamiyou in seinem wichtigen Buch „Theorie der Drohnen“ das gesellschaftliche Problem an.
Für die moralische Beurteilung der aktuellen Luftkriege zeigt sich ein verbreitetes Dilemma. „Sind amerikanische Bomben wirklich besser als russische?“, ist eine der geläufigen Fragen in den Debatten diverser Internetforen. Nur im Zusammenspiel absolut gesetzter Werte lässt sich die flächendeckende Zerstörung, die Bomben in jeden Fall anrichten, erklären. Der Feind wird in diesen Erklärungsmodellen notgedrungen zum Unmenschen, Unwert und Verbrecher erklärt. An den Heimatfronten unterstützen die regierungsnahen Medien kräftig die Degradierung des Gegners. Gleichzeitig wachsen aber in der Intelligenz auf allen Seiten die Zweifel, ob Bombenteppiche oder Drohnenangriffe wirklich das Leben Dritter retten, überhaupt zielgenau eingesetzt werden können und mangels Verhältnismäßigkeit irgendeiner rechtlichen Vorgabe entsprechen können.
Hinzu kommt der Zynismus, dass die Aktienkurse bestimmter Produzenten und Dienstleister bei Aufflammen von Kriegshandlungen regelmäßig profitieren. Zweifellos ist die Kriegswirtschaft, von der Finanzierung des Kriegsgeräts bis hin zum Verkauf von Waffen, integraler Bestandteil der international vernetzten Finanzarchitektur. Die Möglichkeit der grenzenlosen Verschuldung der Kriegsparteien macht jahrelange Kriegsführung überhaupt erst möglich. Die hinter den Verheerungen stehende Ökonomie ist in ihrem titanischen Ausmaß direkter Ausdruck einer ebenso maßlosen Geldwirtschaft. Wer moralische Imperative hochhalten will, muss in letzter Konsequenz auch die Ethik der Geldproduktion hinterfragen.
„Nur eine militärische Intervention wird den Massenmord in Aleppo stoppen“, meinte nun vor einigen Tagen der Nahostexperte Steinbach angesichts der verzweifelten Lage der Zivilbevölkerung. Die Forderung nach dem militärischen Eingreifen der NATO-Länder geht meist einher mit der Verurteilung der destruktiven Rolle Russlands in dem Konflikt. Bei aller Empörung fehlt es den westlichen Akteuren an der Bereitschaft, Bodentruppen in das Land zu senden. Nur, ob die These, dass eine derartige Intervention, die meistens als neue Luftangriffe in Erscheinung tritt, Opfer verhindert und Frieden schafft, wirklich stimmt, scheint zumindest zweifelhaft. Sie spielt letztlich auch mit der Möglichkeit eines dritten Weltkriegs, der angesichts der zynischen Politik der Großmächte durchaus möglich scheint. Inzwischen ist auch in Syrien und dem Irak das Undenkbare längst denkbar geworden, in Gestalt einer direkten Auseinandersetzung der Atommächte.
Auch als Muslim kann man nur erschaudern, sollten moderne Angriffswaffen künftig in die Hände muslimischer Ideologen fallen. Ihr Einsatz und die religiöse Verklärung der entsprechenden Notwendigkeit wäre wohl nur eine Frage der Zeit. Solange aber muslimische Kämpfer oder Staaten nicht über die Lufthoheit und modernste Angriffswaffen verfügen, das ist ein weiteres Dilemma der Logik moderner Kriegsführung, bleibt der Kampf am Boden dem Grunde nach selbstmörderisch. Der radikale politische Islam muss sich fragen lassen, ob es ein Zufall ist, dass seine Strategie an vielen Orten zu Bürgerkriegen geführt oder diese zumindest mitverursacht hat.
Darf man also noch in die Debatte zwischen Muslimen über die Lage im Nahen Osten einwerfen, dass eventuell auch die „Kapitulation“ der kämpfenden Opposition eine zumindest theoretische Möglichkeit wäre? Es mag sein, dass dies unter den Bedingungen despotischer Regime, die sich nach einer Kapitulation zunächst durchsetzen würden, eine Wahl zwischen Pest oder Cholera wäre, aber es mag Lagen geben, in denen eine Aufgabe im Interesse der Zivilbevölkerung legitim sein kann.
Irritierend und gleichzeitig ein Indiz für den Siegeszug der Ideologien ist insoweit, dass die Möglichkeit einer Kapitulation im muslimischen Sprachgebrauch kaum noch vorkommt. Die Erwägung dieses Mittels ist beinahe verpönt. Der Kampf gegen Atommächte und Gegner, die über Lufthoheit verfügen, auf Kosten der Zivilbevölkerung geführt, kommt aber kollektivem Selbstmord gleich.
Neulich habe ich ein Interview mit einem Vertreter einer radikalen Truppe aus Aleppo gesehen, die jeden Waffenstillstand ablehnt. Das Argument des Kämpfers war, dass man jetzt weiterkämpfen müsse, da sonst alles umsonst gewesen wäre. Mich erinnerte die Mentalität des Mannes an den I. Weltkrieg, wo man bereit war, Tausende zu opfern, um eine Anhöhe zu halten oder zu erkämpfen. Der Gedanke, dass es andere Formen des Widerstands geben könnte, ist diesem Vertreter völlig fremd geworden. Im Grunde ist aber dieser Weg, gegen die Radikalisierung und Politisierung der Massen eingesetzt, die einzige Chance zum Frieden.
Man kann den Fragen über die Bedeutung der modernen Kriegsführung für Freund und Feind nicht entrinnen. Sicher ist nur: Es gibt hier keine einfachen Lösungen und – das ist die Tragik heutiger Geopolitik – keine Option, die ohne Opfer auskommen wird. Vielleicht müssen Muslime als Konsequenz dieser Aussichtslosigkeit ihr Verhältnis zum Politischen insgesamt neu justieren.