Es ist ein illustre Runde in Weimar. Rund um den ergrauten Dichterfürsten sind adlige Damen, Kaufleute und kluge Köpfe versammelt. Bei der ungewöhnlichen Vorlesung im Frühjahr 1815, zu der man sich bei der Herzogin Louise zusammengefunden hat, irritiert das Publikum nicht nur wenig bekannte Formulierungen, sondern auch noch eine unbekannten Sprache. Im Grunde ist es ein Skandal: Auf dem Höhepunkt der allgemeinen Islamfeindlichkeit in Europa liest ein deutscher Dichter bei Hofs persische Gedichte und sogar aus dem Buch der Bücher, dem Koran, vor. Das kann nur ein Mann mit einer zeitlebens unangreifbaren Autorität: Goethe.
Der Nationaldichter sieht in seiner offenen Runde weder nur ein geistiges Experiment, noch nur eine schöngeistige Annäherung an die Weltliteratur, sondern ihm geht es bei seinem Projekt um nichts geringeres, als sein Publikum über die inneren Tiefen des Islam aufzuklären. Goethe bleibt dabei seinem Positivismus treu, folgt auch im Umgang mit der umstrittenen Weltreligion instinktiv seinem pädagogischen Leitgedanken. „Wenn man eine Sache verstehen will, muss man sie lieben“, lehrt uns der Meister der deutschen Sprache immer wieder.
Neben seinem seherischen Umgang mit der Schaffung von Technik und Finanztechnik, die er im zweiten Teil seiner Faust-Dichtung atemberaubend aktuell aufbereitete, weist Goethe damit auf das weitere große Thema seiner– und unserer Zeit – hin: die Rolle der Religion.
Goethe teilt grundsätzlich die deterministische Grundüberzeugung aller Buchreligionen, die besagt, dass alle Gläubige durch das Schicksal verbunden sind. Er weiß aber auch, wie es in Schillers Dreißigjährigem Krieg beschrieben ist, dass religiöser Fanatismus die Dynamik von Bürgerkriegen ins Maßlose befeuern kann.
Es ist insofern die „große Wirksamkeit“ des Korans, die Goethe in den Noten und Abhandlungen zum durchaus modernen Fazit gelangen lässt: „Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens.“
Wer würde Goethe auch heute in diesem Urteil widersprechen; gerade jetzt, wo der gesamte arabische Raum in eine Neuauflage des Dreißigjährigen Krieges abdriften könnte, die alten Traditionen des Zusammenlebens zwischen Juden, Christen und Muslimen sich aufzulösen drohen und ideologisch verblendete Kämpfer ihr Unheil verbreiten. Auch hierzulande scheint eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit dem Islam schwieriger zu werden; wohl auch, weil eine sachliche Debatte durch allgemeine Probleme der Integration, Fanatiker auf allen Seiten und auch einige Unkenntnis erschwert wird.
Die große Debatte der letzen Jahre, die der ehemalige Bundespräsident Wulff angestoßen hatte, ob denn – neben der Tatsache einiger Millionen Muslime im Lande, darunter auch viele deutsche Muslime – auch der Islam selbst zu Deutschland gehöre, möge man dabei zunächst als akademische Frage getrost offen lassen. Sicher dürfte aber sein, dass der Dichterfürst aus Weimar zweifellos zu unserem Land gehört – und damit auch eine Tradition eines ganz anderen, verstehenden Umgang mit anderen Lebenspraktiken.
Der west-östliche Divan gehört neben der „Farbenlehre“ und „Dichtung und Wahrheit“ zu den wichtigsten Werke Goethes in der Dekade von 1810-20. Katharina Mommsen hat das Verhältnis Goethes zum Islam in ihrem Standardwerk „Goethe und die arabische Welt“ brilliant zusammengefasst.
Für Goethe ist die Beschäftigung mit dem Islam nichts anderes als die „eigene Frage als Gestalt“. Was ihn an der Lehre des letzten Propheten besonders faszinierte, hat er 1827 gegenüber Eckermann, so beschrieben: „Jenes philosophische System der Mohammedaner ist ein artiger Massstab, den man an sich und andere anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe geistiger Tugend man denn eigentlich stehe.“
Damit bietet er ein Erkenntnisverfahren im Umgang mit der Religion an, dass eben nicht auf einer negativen Dialektik gegen den anderen Glauben beruht, sondern vielmehr auf Austausch, Studium und konstruktiver Selbstreflexion. Die Tendenz, eigene Identität durch die Ablehnung des „Feindes“ zu gewinnen – ganz nach dem Motto „wir sind gut, weil sie böse sind“, bleibt dem Dichter dabei ganz fremd.
Zugegeben, dieses unbekümmerte Verfahren gelang wohl im Weimar des 19, Jahrhundert noch einfacher, als es heute nach den Exzessen muslimischer Terroristen und dem Spiel der Medien in unserer Zeit noch möglich zu sein scheint. Man möchte aber gleichzeitig hinzufügen, vorbildlich bleibt es noch immer.
Statt an das ideologische aufgeheizte Gegeneinander erinnert Goethe lieber an das Verwandtschaftsverhältnis aller Religionen. Einfacher gesagt, an den banalen Sachverhalt, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Occident! Nord- und südliches Gelände, ruht im Frieden seiner Hände“, schreibt Goethe in seinem zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfassten Meisterwerk der West-östliche Divan.
Nicht wenige Gedichte des Divans sind unmittelbar durch den Koran inspiriert, dessen „Feierlichkeit der Sprache“ Goethe immer wieder magisch anzieht. Das heute beinahe legendäre Buch, dass zur Zeit Goethes nur begrenzten Erfolg hatte – es brauchte 100 Jahre, um die Erstausgabe zu verkaufen – gilt heute als das wichtige Symbol eines wünschenswerten Dialogs der Religionen. Als ein Markenzeichen wird der Titel als Motiv zahlloser Konferenzen und Symposien gewählt und ist sogar Namensgeber eines arabisch-jüdischen Orchesters.
„Goethe ist derjenige, der bereits vor 200 Jahren ein Forum für diesen Dialog zu schaffen suchte“, fasste Dr. Manfred Osten die Grundabsicht des Dichters 2013 auf einer Rede in Weimar zusammen. Seine Absicht sei es gewesen, so Osten, die eurozentristische Gesellschaft seiner Zeit in eine des Lernens von anderen Kulturen zu verwandeln. Für Goethe, der 1832 verstarb, war die Literatur der muslimischen Welt im 19. Jahrhundert so ein Gegengewicht zu den „engstirnigen, chauvinistischen Tendenzen, wie sie im Deutschland des 19. Jahrhunderts vorherrschten“.
Wer Goethes Islam-Begeisterung im Detail besser verstehen will, kommt bis heute nicht an der Grande Dame der Goetheforschung, Katharina Mommsen, vorbei. Schon 1988 veröffentlichte die, in den USA lebende Gelehrte mit ihrem Sachbuch Goethe und die arabische Welt das einmalige Standardwerk über diesen Aspekt der Forschung. Auf über 600 Seiten und mit unzählige Zitaten und Quellenhinweisen beweist Mommsen zweifellos, dass Goethes Annäherungen an den Islam nicht bloße nur eine kurze Episode war.
Ein wichtiges Teil ihres Buches zur Rolle des Islam in Goethes Denken widmet Mommsen dabei auch dem Divan. Es wird schnell klar, wenn man dieses Kapitel liest, dass seine facettenreiche Einsichten über den Monotheismus, den Determinismus oder das Christentum bis heute einige Sprengkraft bergen. Natürlich vergisst Mommsen dabei auch einige kritische Anmerkungen des Meisters – beispielsweise zum Frauenbild der Muslime – nicht.
Insbesondere die Klarstellung Goethes aber, dass er Jesus als Propheten einstuft, nicht aber als „Sohn Gottes“, dürfte dann eher wieder Muslime begeistern. Mit mehreren Zitaten belegt Mommsen das aktive Engagement Goethes zur Verteidigung eines reinen Monotheismus, seine Sympathie für eine Einheitslehre, die man denken kann. Die Distanz zum Christentum äußert sich dann auch in seiner testamentarischen Verfügung, zu Lebzeiten keinerlei christliche Symbolik, also auch keinen Pfarrer, an seinem eigenen Grab zuzulassen.
Für manchen mag das berühmte Bekenntnis Goethes, das er 1816 ablegte, „er lehne den Verdacht nicht ab, selbst ein Muselmann zu sein“, dann in diesem Kontext wie eine ungeheure Provokation klingen. Da Goethe aber weder Philosophie, Natur noch Religion als starre „Systeme“ denken wollte, muss man hier natürlich den Wegcharakter des Goetheschen Denkens im Hinterkopf behalten.
Wie soll man nun also, unter Beachtung dieser Maxime, das Werk, soweit es die Religionen betrifft, an sich und das Verhältnis Goethes zum Islam überhaupt einordnen? Zumal, die ungeheure Breite und bloße Zahl der Aussagen des Mannes einige Interpretationsmöglichkeiten lassen.
Es ist sicher zutreffend, dass Goethe – stärker noch als in seiner Jugend – in seinen späten Jahren alle in Orthodoxie erstarrten oder dogmatischen eingeengten religiösen Vorstellungen ablehnte. Genauso sicher ist, dass ihm, der muslimischen Soldaten in Weimar interessiert beim Gebet beobachtete, auch gar nicht alle Elemente klar sein konnten, die zur islamischen Lebenspraxis dazugehören. Viele Teile der islamischen Wissenschaften – insbesondere die, die über die innere Glaubenslehre hinausgehen – waren ihm nicht bekannt. Das islamische Wirtschaftsrecht, um nur ein Beispiel zu nennen, hätte ihn als Ökonomen wohl interessiert, erklärt hat es ihm damals natürlich niemand.
Auf der anderen Seite wird bei genauerer Beschäftigung deutlich, dass das islamische Glaubensbekenntnis, mit dem der Islam seinem Wesen nach beginnt, von Goethe durchaus inhaltlich nachvollzogen und dem Grunde nach bestätigt wurde. Ob er vielleicht – so könnte man anmerken – eine Art Vorläufer „liberaler“ Muslime war, die den Islam im Innern bejahen, aber eben nach Gutdünken und mit unterschiedlichen Begründungen nicht oder nur zum Teil praktizieren?
Liest man in der vielbeachteten Goethe-Biographie Safranskis die Passagen über den Divan, dann spürt man die Neigung des kritischen Philosophen, die Nähe Goethes zum Islam eher spöttisch herunterzuspielen. Der Autor kann die Annäherung Goethes auch deswegen nicht mehr verstehen, weil er sein eigenes, dominantes Islambild allein aus der Moderne gewinnt und im Islam – in gewisser Verarmung – nur noch eine äußere, ideologische Gesetzesreligion erkennen kann. Ernst Jünger fasste das Phänomen der Anwesenheit von Religion im Zeitalter der Titanen einmal anders zusammen: „Die Muslime“, so Jünger lapidar, „erscheinen heute im Kleid der Technik“.