Ein wichtiges Thema für die Muslime ist das Verhältnis von Tradition und Moderne. Oft wird dies als eine grobe Dialektik zwischen Fortschritt und Rückständigkeit vorgestellt. Wirklich essenziell ist für mich allerdings die Frage nach dem Verhältnis von Islam und Technik. Hierbei geht es natürlich nicht um die Frage, ob man einen Laptop benutzen kann, sondern um die Frage wie die Technik (und ihre Quasi-Offenbarung Internet) „Wahrheit“ birgt. Aus Sicht der Tradition ist das islamische, offenbarte Recht eine Einschränkung technischer und politischer Möglichkeiten und damit – neben der Liebe zum Propheten und der Schöpfung – ein dem Islam innewohnendes Maß. Ein totaler Krieg oder eine totalitäre Lebensweise, aber auch ein entfesselter Kapitalismus ist dieser maßvollen Tradition völlig fremd.
Das Recht kann sich dabei in bestimmten Grenzen wandeln und anpassen, bleibt aber andererseits die entscheidende Bezugsgröße. Politisch betrachtet ist dies tatsächlich nicht modern. Der Modernismus hat ein gebrochenes Verhältnis zu diesem Maß und akzeptiert oder besser kopiert alle technisch-modernen Möglichkeiten der „Machtergreifung“ (Banken, Parteien und im schlimmsten Fall Ideologie und Terrorismus). Modernismus führt daher notwendigerweise zur Dominanz des Politischen über das Recht, sei es – je nach politischer Großwetterlage – als Liberalismus oder Extremismus. Flexibilität ist dabei eine wichtige taktische Möglichkeit und die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung die eigentliche Motivation dieses „modernen“ islamischen Politikverständnisses.
Auch deswegen sind die meisten islamischen Organisationen „modern“, also nationalistisch, technokratisch und gesellschaftspolitisch engagiert – dabei relativ wenig „gemeinschaftsorientiert“ oder „gemeinschaftsfördernd“. Das Dilemma der Gelehrten dieser Organisationen ist, dass sie kaum gegen den „Nationalismus“ oder die „Technokratie“ aufbegehren durften. Zakat oder Stiftungen sind in diesen Organisationen nicht nur zufälligerweise keine „machtpolitisch“ besonders interessanten und öffentlich besonders betonten Instrumente. Was bleibt ist vor allem ein großer Apparat und einiges Gerede um das Kopftuch.
Ich bin auch nicht sicher – zum Beispiel – ob es in Ägypten unter der Herrschaft der modernen Bruderschaften mit ihren Mitteln und Methoden angewandter Herrschaftstechnik besonders lustig zuginge. Im Kern denkt dieser politische Islam, der moderne Staat sei etwas Neutrales („technisches“) und man könne den Staat dem Islam und dem politischen Willen unterwerfen. In Wirklichkeit neutralisieren diese Staaten aber den Islam. Der Staat – so zumindest Hobbes – ist selbst nur ein sterblicher Gott. Wie also den Modernismus, die Ideologie kritisieren, aber doch fest im Islam verwurzelt bleiben?
Der unten folgende Eintrag in einem Weblog beschreibt schön das Wesen meines letzten Wochenendgastes Schaikh Otman Chafaq und gleichzeitig den Unterschied zwischen der Lehre des „authentisch-klassischen Islam“ und den Abgründen modernistischer Ideologie. Beides hat seinen eigenen Ort. Das Erstere findet auf „Teppichen“ und nicht etwa auf Parteitagen statt. Macht ist dabei etwas, was von Allah verliehen wird, was erfahrbar ist, aber nicht etwas, das man „organisieren“ könnte. Die Skepsis gegenüber islamischen Parteien und politischen Bewegungen ist hier integrierter Erfahrungshorizont.
Die Bedingung für diese unverstellte Wissensvermittlung ist die Offenheit, Anwesenheit und der Adab der Gäste. Nur in diesen Räumen kann man sich reinen Quellen des Islam annähern. Diese Lehre „von Herz zu Herz“ ist nicht nur zeitlos positiv, sondern kommt auch ohne jedes Ressentiment aus. Weil in der Tiefe freundlich und absolut positiv denkend ist die Einladung der deutschen Nachbarn eine Herzensangelegenheit. Hier legt man das Buch weg und betreibt eine andere, fröhliche Wissenschaft.
Schaikh Otman Chafaq (67) aus Casablanca in Marokko ist einer jener Muslime, denen eine sehr seltene Eigenschaft gegeben wurde: Das feine Gleichgewicht zwischen den Anfodrerungen des Alltagslebens und dem spirituellen Leben des Herzens harmonisch miteinander zu verbinden. In der Sprache des Islam vereinigt er in sich die äußeren Eigenschaften eines Vorbeters (Imam) und Rechtsgelehrten (arab. Faqih) mit der subtilen Meisterschaft des Sufi-Weges, der auch als Reise zum König – zu Allah – bezeichnet wird. Schaikh Otman ist Teil jener Kette von vertrauenswürdigen Überlieferern von Hadithen (Worte und Taten des Propheten Muhammad), die traditionell seit 1400 Jahren nicht über das Studium von Büchern, sondern jeweils von Angesicht zu Angesicht direkt bewahrt und gelehrt werden. Schaikh Otman spricht einfach und eloquent über die Anbetung Allahs und die Lebensweise und den Charakter Muhammads, sowie über die Offenbarung des Qur’ans. Viele in Deutschland und anderen europäischen Ländern, die annahmen, dass Islam eine ihnen fremde Religion sei, erkennen überrascht, dass der Wüsten-Prophet Muhammad den Menschen nicht nur eine Lebensweise gebracht hat, deren Wurzeln – ebenso wie diejenigen des Christentums! – aus dem Nahen Osten kommen; überrascht sieht man, dass der Islam in Wahrheit eine universale Lebensweise und göttliche Rechtleitung darstellt, die auf die Herausforderungen und Fragen des 21. Jahrhunderts vorbereitet ist. Die Lehre Schaikh Otmans ist barmherzig und tief und strahlt jene Faszination und Anziehungskraft aus, die der Islam stets für Europäer hatte.