Die Informationsgesellschaft braucht keine Zensur, denn diese geschieht automatisch durch die Übersättigung mit Meldungen, Meinungen und Perspektiven. So zumindest erklärt es der französische Autor Jean Christophe Rufin. An der These ist etwas dran, denn es ist kein Problem, zu jedem beliebigen Thema eine Flut von Informationen zu horten. Das Problem ist vielmehr, die Übersicht zu bewahren und das Phänomen in seiner Gestalt zusammen zudenken.
Muslime sind durch ihre Offenbarung in einen ganzheitlichen Kontext gestellt, der allerdings durch die eingeschränkte Lesart des politischen Islam inzwischen entstellt ist. Die Folge ist eine machtvolle Dialektik zwischen liberalen und konservativen Muslimen und die Formung einer kleinen „repräsentativen“ Elite, die entweder als „Reformer“ protegiert oder als „Islamisten“ an den Pranger gestellt wird. Die Gefahr ist dabei, den Kern der Offenbarung zu übersehen.
Der Koran stellt unter anderem eine Maxime in den Mittelpunkt, die zunächst nicht politisch verstanden werden kann und von allen Facetten des politischen Islam auch konsequent ignoriert wird. Sie ist hochaktuell und lässt sich in dem Kernsatz zusammenfassen, dass „Allah den Handel erlaubt und Riba verboten hat“. Die vollendete Umkehrung des Satzes, die wir ja heute erleben, hat mit dem Verlust kollektiver Freiheit zu tun. Hier sind wir also inmitten unserer Zeit.
Die Konservativen träumen weiter von souveränen Nationalstaaten, die den Menschen Freiheit, Bürgerrechte und politische Mitbestimmung garantieren soll. Das war einmal. Heute sind globale, ortungslose Strukturen mit den Mitteln des Geldsystems ungeheuer mächtig geworden. Sie schaffen einen neuen Raum für postdemokratische Ordnungen. Es geht den Muslimen übrigens nicht um die reaktionäre Abschaffung des Kapitalismus, sondern allein um dessen Mäßigung. Wer das ausführende „Subjekt“ dieses Projektes der Mäßigung sein soll, ist die politische Frage unserer Zeit.
Die eigentliche Pointe dieser Situation wird heute eher von der europäischen Intelligenz gesehen als von Muslimen selbst. Der slowenische Philosoph Zizek hat diesbezüglich eine interessante Beobachtung gemacht. Er berichtet von den Absichten der Flüchtlinge, die er getroffen hat und die alle keinesfalls in Slowenien bleiben wollten, sondern unbedingt dorthin streben, wo es den effektivsten „Wohlfahrtsstaat“ gibt. Diese Aussicht wirkt heute auf Massen der „Wanderarbeiter“ stärker als irgendeine Losung des antiquierten politischen Islam.
Während in Deutschland eine Dialektik – ausgelöst durch mediale Inszenierungen – über die Frage der Immigration beginnt, die zwischen naiver Zustimmung und paranoider Ablehnung schwankt, stellen sich weitere Fragen. Sind die aktuellen Fluchtbewegungen wirklich alleinig eine unausweichliche Folge der Globalisierung, also ein Schicksal, dem man sich in Europa zu fügen hat? Der Franzose Jean Francois Gayraud spitzt hier einen – zu untersuchenden – Zweifel zu: Gibt es einen kriminellen Kapitalismus, ein Regime der Mafias mit Kreditrahmen bei internationalen Banken, der auch seine geopolitische Wirkung entfaltet?
Das nüchterne Fragen bleibt also trotz der Dramatik der humanitären Katastrophe legitim: Wer profitiert? Die Muslime sind relativ eindeutig zunächst auf der Seite einer bedingungslosen „Willkommenskultur“. Das ist sympathisch, finde ich. Allerdings darf diese Moralität nicht das Denkvermögen über die künftige „condition humaine“ ausschließen. Flüchtlinge sind in Deutschland einerseits zwar willkommen, aber auch längst Objekt eines streng verfassten, säkularen Erziehungsprogrammes. Das steigende Angebot von „Einzel- und Extremfällen“ ermöglicht dabei, den Druck auf die muslimische Gemeinschaft jederzeit beliebig zu steigern.
Die Definition, der Nihilismus sei die Trennung von Ordnung und Ortung, bleibt einer der relevanten Maßstäbe, die globalen Bewegungen einzuordnen. Können Menschen überhaupt noch kulturstiftende Orte etablieren. Oder ist aber das technologische Projekt erfolgreich darin, eine globale, gleichförmige, gut überwachte und konsumierende Uniformität zu bilden. Ist das Internet gar die letzte Offenbarung für den säkularisierten Menschen geworden?
Das Gespräch zwischen Muslimen und der europäischen Philosophie ist unverzichtbar. Nur so können wir verstehen, mit welchen Denkbewegungen, Terminologien und Erkenntnisverfahren wir zurück und in die Zukunft blicken. Die geschichtliche begründete Ablehnung Europas gegenüber Ideologien ist wichtig, um nicht in die Falle eines „politisierten“ Islam zu stürzen. Dessen Idee eines „islamischen“ Staates bleibt ein unüberwindbares Paradox.