„Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“ (Hans-Georg Gadamer)
„Wo man singet, laß dich ruhig nieder; Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; Wo man singet, wird kein Mensch beraubt; Bösewichter haben keine Lieder.“ So oder so ähnlich lauten einige bekannte Zeilen des Dichters Johann Gottfried Seume (1763-1810). Das hat etwas Wahres und erinnert an die Philosopheneinsicht, dass der Mensch überhaupt dichterisch wohnt. Die Sprache ist das große Wunder des menschlichen Seins, und gerade dieses Wunder offenbart sich im Islam natürlich auf besondere Weise. Das einsame Rezitieren der erhabenen Schrift zu Hause ist das Eine, aber der Qur’an ermöglicht auch eine besondere Weise des Miteinanderseins, die Rezitation des Qur’an in der Gemeinschaft, zum Beispiel in der Warsch-Lesart.
An guten Tagen kann diese muslimische Gemeinschaft nachvollziehen, dass der Erfahrungsmittelpunkt, dem man sich in der Rezitation nähert, innen und außen zugleich liegt. Aber auch der Umstand, dass die Gemeinschaft sich immer wieder trifft, um gemeinsam die offenbarte Sprache zu feiern, ist in einer Zeit, in der viel kommuniziert und gesendet wird, aber selten die Sprache zum Ereignis wird, ein Novum. Die Offenbarung ist so nichts anderes als der Mittelpunkt der Gemeinschaft, die einigende Kraft, die die Herzen zusammenzuführen vermag. Neben der Erfahrung des göttlichen Zuspruchs ist es natürlich auch der Intellekt, der durch das göttliche Zusammenspiel der Worte angeregt wird.
Der Intellekt, das gemeinsame Verstehen und Erfahren des Offenbarten, eröffnet die Dynamik des muslimischen Seins. Wissen und Handeln sind eins. Die Etablierung von Gebet und Zakat, Moschee und Markt sind die einfachen Handlungsmaximen, die aus einer Rezitation einen Ort wachsen lassen. Das muslimische Leben und seine Ordnung bewegt sich um diesen zentralen Ort, lokal und durch keine Überorganisation „zentralisiert“. Nur in dieser Organik und gemeinsam können die spirituellen und materiellen Notwendigkeiten des islamischen Daseins erfüllt werden. Die Botschaft geht nach außen: Nur mit der Ehrfurcht vor dem Schöpfer lässt sich Solidarität dauerhaft stiften und das Gewinnstreben des Menschen begrenzen. Die Solidarität mit den Armen, der gerechte Handel, das Gebet, die Nachahmung des Prophetischen, dies alles gehört zur eigentlichen Verortung der Muslime.
Man kann Moscheen bauen, Verwaltungssitze betreiben, Organisationen, Dachverbände gründen – aber ohne diese einfache, gemeinschaftliche Verortung des Islam fehlt doch die innere Dynamik und der Zusammenhalt des islamischen Lebens. Die Folge ist die Dominanz der Kultur, die Egozentrik des Nationalen, die Mechanisierung des Ritus oder – mangels einer sozialen Wirklichkeit – die Ideologisierung des Islam. Vor allem, wenn der Islam nichts mehr anderes ist als Tagespolitik, ist der Pendelschwung der Extreme kaum aufzuhalten. Aus erbarmungslosen Terroristen werden dann Politiker im Nadelstreifenanzug.