Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Abu Bakr Rieger

Islam, Finanztechnik, Recht & Philosophie

Fasten in Kriegszeiten

Angesichts der Verwüstungen von Kriegen und dem ökologischen Zustand der Erde ist der Mensch in seiner spirituellen Veranlagung herausgefordert. Friedrich Nietzsche warnte seine Leser vor einer wachsenden Wüste, die das Innenleben des Denkenden bedroht. Der Nihilismus ist eine philosophische Anschauung von der Nichtigkeit und der Sinnlosigkeit alles Bestehenden, des Seienden überhaupt.

Foto: Said Ismagilov

Islam ist das Gegenteil dieser Lehre. Der Ramadan ist ein Ritual, das an die überragende Bedeutung der Offenbarung erinnert und in das Spiel zwischen den materiellen Bedürfnissen und den geistigen Möglichkeiten der Existenz einführt. Wie kaum eine andere Übung manifestiert das Fasten ein Paradox: Einerseits glauben wir eine Identität zu besitzen, andererseits wird das Dasein fließend und in Auflösung erfahren. In diesen Grenzerfahrungen erleben wir so eine Relativierung der Identitätspolitik und stehen so unter dem Eindruck der Annäherung an unseren Schöpfer. Die Bewahrung der Schöpfung ist für Muslime ein ehrenvoller Auftrag.

„Das Verschwinden der Rituale beschleunigt den Prozess einer Ent-Sozialisierung des Menschen und konditioniert ihn auf die Produktion“, schreibt der Philosoph Byul Chun Han. Die Praxis des Islam macht ohne Gemeinschaft keinen Sinn. In den letzten beiden Jahren war unsere Erfahrung des Ramadans nicht nur von dem Verzicht auf Essen und Trinken geprägt, sondern ebenso von dem teilweisen Verlust der sozialen Dimension.

Das gemeinsame Fastenbrechen und die kollektiven Gebete und Feste waren nur unter den Geboten der Distanz möglich. Damit wurde uns bewusst, dass wir in diesem heiligen Monat nicht auf einer weltabgewandten Insel leben. Unsere Sehnsucht nach Spiritualität führt nicht dazu, sich von den Problemen dieser Welt abzuwenden, sondern ihnen mit neuer Energie zu begegnen.

Die Metapher von dem gemeinsamen Boot, dessen Untergang wir verhindern wollen, ist wahr. Die in Europa lebenden Muslime sind zu jeder Zeit und auf verschiedenste Weise mit dem kollektiven Schicksal und den aktuellen Herausforderungen unserer Gesellschaften verbunden. In diesen Tagen erleben wir eine neue Dimension der Sorge. Der Krieg in der Ukraine stört die jahrzehntelange Gewohnheit, Wohlstand und Frieden in den europäischen Breitengraden als eine Selbstverständlichkeit anzusehen. Die Möglichkeit einer atomaren Konfrontation schürt existentielle Ängste vor einem nihilistischen Finale der Menschheitsgeschichte. Wie alle Gläubigen pflanzen wir bis zum letzten Moment neue Bäume.

In jeder Krise suchen wir nach Antworten. Dabei entspricht es dem Naturell des Menschen komplizierte Fragestellungen möglichst einfach beantworten zu wollen. Im Extrem mündet unser politisches Urteilsvermögen schnell in simple Glaubenssätze, in Systemen, die auf unbewiesenen Fakten fundieren oder in Theorien, die alle Geschehnisse grundsätzlich in eine große, düstere Erzählung gießen.

„Die Natur ist kein System“, mit diesem Satz hat Goethe die Grenzen menschlicher Urteilskraft unter den Bedingungen komplizierter Zusammenhänge bestimmt. In der modernen Literatur findet sich diese Erkenntnis ebenso: „Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, dass sie sie in ein System sperren“, schreibt Robert Musil in seinem Werk „Mann ohne Eigenschaften.“

Islam ist kein starres, ideologisches Denkgebäude, sondern eine Praxis, die in dem Chaos der Meinungen, Ereignissen und Theorien einen Mittelweg aufzeigt. Die Wahrheit findet sich in der Mitte, nicht an den Rändern der Gesellschaft. Der Ramadan stärkt den Charakter durch den Verzicht und wir nehmen uns bewusst die Zeit, inmitten des Lärms der Informationsgesellschaft, auf unsere große Erzählung, die Offenbarung, zu hören. Hier finden wir den Entwurf für ein maßvolles Leben, das sich insbesondere in der Maxime ökonomische Macht zu begrenzen, zeigt, die Zurückweisung menschlicher Allmacht-Phantasien und den Kern der Botschaft aller Religionen: das Vertrauen auf ein gutes Schicksal.

Im Unterschied zu vergangenen Jahrhunderten registrieren wir heute im Minutentakt zahllose Tragödien auf einem ganzen Planeten. Gerade im Ramadan leben wir Solidarität vor, denken an Arme und Benachteiligte, an Opfer von Kriegen und Katastrophen. Niemand ist in der Lage dieses Leid zu ermessen und in der Offenbarung ist die Rede davon, dass kein Gläubiger mit mehr belastet wird, als er tragen kann.

Wer behauptet, alle Abgründe der Welt auf gleiche Weise moralisch zu empfinden, bewegt sich eher in einer abstrakten Theorie, als in einer menschenmöglichen Erfahrung. Die Wirkung der Hypermoral liegt in erster Linie in der Demoralisierung. In diesem Kontext ist – wie es Ibn Khaldun formulierte – die Geographie ein Schicksal. Jeder Ort hat seine eigenen Perspektiven.

Die Solidarität zwischen Muslimen, die Idee von Gerechtigkeit und die Sorge um die Armen ist Ausdruck eines globalen Prinzips. Die Politik Russlands und Chinas, die jede Einmischung in die Innenpolitik ihrer Großräume strikt ablehnen, hält uns, angesichts des düsteren Schicksals der Gläubigen in diesen Regionen, nicht davon ab klare Positionen zu beziehen. Es gibt keine echte Religionsausübung unter den Bedingungen der Unfreiheit.

Liest man die Theorien von Alexander Dugin, ein Stichwortgeber des russischen Präsidenten, stößt man auf eine Argumentation, die den Muslimen ihre Existenzberechtigung nicht abspricht, sondern sie vielmehr auffordert, den, in seinen Augen, zersetzenden Globalismus zu bekämpfen. Diese Vision sucht nach Partnern, die sich im Rahmen eines groß angelegten Widerstandes, gegen den internationalen Liberalismus stellen. In Teilen der muslimischen Welt scheint dieses Angebot, ausweislich der zögerlichen Zurückweisung der Aggression in der Ukraine, zu verfangen. Die Gründe für diese Zurückhaltung liegen nicht nur am Interesse an eigenem Machterhalt.

Die Pilgerreise nach Mekka und Medina, aber auch die soziale Wirklichkeit in unseren Moscheen führt dazu, dass wir Muslime in keiner Echokammer leben, sondern in einem realen Austausch stehen. Im Jahr 2015 haben wir eine Million syrische Flüchtlinge empfangen und viele von Ihnen persönlich kennengelernt. Eine ihre Botschaften war, sich keiner Illusion über die Humanität russischer Außenpolitik hinzugeben.

Die Unterschätzung der intellektuellen, von Erfahrung geprägten Fähigkeiten der zu uns flüchtenden Menschen ist ein sich wiederholender Fehler. In jeder Moschee kann man weitere Erfahrungsberichte aus allen Krisenregion dieser Erde sammeln. In diesen Gesprächen hört man regelmäßig von dem an den Westen adressierten Vorwurf der Doppelmoral, der eine größere Mobilisierung gegen die Mächte des Bösen verhindert.

Die Welt könnte in der Ukraine-Frage gespaltener sein, als es in Europa den Anschein macht. „Es ist nicht das erste Mal, dass der Westen seine eigene Einheit mit einem globalen Konsens verwechselt“, schrieb die „Financial Times“. Die Positionierung Marokkos, der Türkei und Saudi-Arabiens sind Beispiele einer eher neutralen Haltung gegenüber der Politik Putins. Ob die Vorbehalte dieser Staaten und die Vermeidung einer endgültigen Verdammung Russlands, moralisch haltbar sind oder nur einem ökonomischen Kalkül folgen sei dahingestellt.

Vielleicht ist es aber auch ein erster Hinweis, dass sich in der islamischen Welt ein Trend durchsetzt, der weder den Narrativen des Westens, noch des Ostens, mit all ihren jeweiligen Widersprüchen, bedingungslos folgt. Bisher formulieren diese Staaten keine inhaltlichen Alternativen zu der Politik der Großräume, bis hin zu einem aus dem Islam begründeten, dritten Weg eines gemäßigten Kapitalismus. Das Risiko ihrer Neutralität ist offensichtlich, drohen doch neue Abhängigkeiten von autoritär auftretenden Systemen.

Islam ist ein Mittelweg und keine dialektische Ideologie. Der politische Charakter von Muslimen ist in der Moderne von pragmatischen, konservativen und liberalen Elementen beeinflusst. Die Entfaltung unserer ökonomischen und sozialen Infrastruktur trägt zu lebendigen Zivilgesellschaften bei. Islamische Geopolitik war über Jahrhunderte auf offene Handelswege angelegt und in diesem Sinne global. Der Prophet hat im Zentrum seiner Stadt eine Moschee und einen Marktplatz etabliert.

Im Ramadan erleben wir Erneuerung und Vitalität. In den Gebetshäusern begegnen sich BesucherInnen und Gäste aus aller Welt. Teil unserer Überzeugung ist es die Extreme zu meiden und dem Ideal zu folgen, gegenüber der politischen Macht die Wahrheit zu sagen. Diese Kraft entsteht aus den Erfahrungen und Gewissheiten der spirituellen Praxis. Sie ist stärker als die Furcht vor Krieg oder eingeschränktem Wohlstand.

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