So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: „Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!“ Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese. „Aber er hat ja gar nichts an!“ sagte endlich ein kleines Kind. „Hört die Stimme der Unschuld!“ sagte der Vater; und der eine zischelte dem andern zu, was das Kind gesagt hatte. „Aber er hat ja gar nichts an!“ rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: ,Nun muß ich aushalten.‘ Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war. (Aus Hans-Christian Andersen, Des Kaisers neue Kleider)
Die Kriegstage in Georgien lassen sich besser verstehen, wenn man sich von dem klassischen Bild des Krieges zwischen zwei Nationen verabschiedet. Hier sind die Interessen von Militärbündnissen wie der NATO oder Betreibern von Erdölpipelines wie der BP betroffen. Die Machenschaften haben demzufolge relativ wenig mit den Interessen der Menschen in den betroffenen Regionen zu tun. Ungelöst ist auch die Grundsatzfrage, unter welchen politischen Bedingungen ein Volk seine staatliche Souveränität frei bestimmen kann.
Krieg ist heute zumeist die Fortsetzung ökonomischer Zwecke mit anderen Mitteln.
Das Ende der Politik schimmert immer wieder durch: Nach dem US-gesponserten Aufstieg von Michail Saakaschwili zum Präsidenten Georgiens Ende 2003 wurde 2005 unter Führung von British Petroleum die nächste westliche Pipeline eröffnet: von Baku über Tbilissi zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan. Diese sogenannte BTC-Trasse hat die zehnfache Durchleitkapazität der russischen Konkurrenzpipeline nach Noworossisk – ist jedoch kaum ausgelastet. Seit dem Machtwechsel von 2003 – so der SPIEGEL, stiegen gleichzeitig in Georgien die Verteidigungsausgaben enorm. Betrugen sie 2003 noch 52 Millionen Lari (umgerechnet 24 Millionen US-Dollar), verdreifachten sie sich im Jahr 2006 auf 139 Millionen Lari (umgerechnet 78 Millionen US-Dollar). Das Schicksal der Politiker erinnert in diesen Szenarien des öfteren an das nach wie vor aktuelle Gleichnis des „Kaiser ohne Kleider“.
Erstaunlich ist auch, wenn man die Berichterstattung von CNN mit dem englischsprachigen Sender „Russia Today“ vergleicht: Beide Seiten stellen das gleiche Geschehen radikal gegensätzlich dar. Gut und Böse sind jeweils getauscht. Experten sind auf beiden Seiten gleich einseitig.
Etwas ironisch wirkt der Aufruf von Präsident Bush, „die territoriale Integrität“ Georgiens und die „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ zu wahren. Beide Prinzipien des Völkerrechts sind nach dem „Krieg gegen den Terror“ nicht mehr existent. Folgerichtig hat Präsident Putin entschlossen ein Gegengewicht gesetzt. Die Mitgliedschaft Georgiens in der NATO war für Russland geopolitisch völlig inakzeptabel. Deutschland muss nun feststellen, dass es eine Differenz zwischen den eigenen Interessen und der Geopolitik der NATO gibt.