In den frühen 1990er Jahren schien es so, als wären die alten ideologischen Abgründe der Geschichte mit der Wiedervereinigung der Deutschen endgültig überwunden. Ein Vierteljahrhundert später treten aber wieder neue und alte Spaltungen offen zu Tage, es sind in erster Linie Bruchlinien zwischen Arm und Reich, aber auch zwischen National und Global. Wer geglaubt hätte, dass Begriffe wie „Heimat“, „Nation“ oder „Leitkultur“ aus der Mode gekommen sind, wird heute eines Besseren belehrt. Sie sind längst wieder im Zentrum neuer Kulturdebatten.
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Carl Schmitts Definition, dass der moderne Nihilismus durch die Trennung von „Ordnung und Ortung“ definiert sei, entfaltet heute wieder seine denkerischen Herausforderungen. Während der Siegeszug des Kapitalismus zweifellos die beherrschende Ordnung auf der Welt bildet, sorgen sich immer mehr Menschen um ihre eigene Verortung. In Deutschland ist dabei der alte Streit um das Gewicht nationaler oder weltbürgerlicher Gesinnung neu ausgebrochen. Zahlreiche neue Publikationen drehen sich um die Rolle von Heimat und Identität und indizieren mit der Fragestellung gleichzeitig einen Verlust derselben.
Eine interessante und lesenswerte Lektüre ist in diesem Kontext beispielsweise das Buch „Heimat“ von dem Publizisten Christian Schüle. Für den Autor ist „die Frage nach der Heimat die drängendsten Frage unserer Zeit“. Schüle zeigt die Bedeutung von typischen Heimaterfahrungen, die Abgründe der neuen Identitätspolitik und die veränderte Rolle von Heimat im Zeitalter der Technik.
Die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 stellt dabei nicht nur einen Bruch in der symbolischen Ordnung unserer Zeit dar, sie stellt auch die gewohnten Wertevorstellungen in Frage. Seit diesem Jahr und mit den Bildern massenhafter Flucht, wird der europäische Humanismus auf die Probe gestellt. Es geht um Grundsätzliches: Wo verläuft die Grenze unserer Aufnahmebereitschaft, gibt es eine Obergrenze für Asylsuchende und erlauben wir ein Menschenrecht auf freie Ortswahl?
Der radikale Unterschied zwischen dem rechtlosen Flüchtling und dem Status des europäischen Bürgers, zwischen dem, der Recht sucht und demjenigen, der ein Aufenthaltsrecht gewährt, erinnert Schüle, offenbart aber auch diverse Gemeinsamkeiten: „Die beiden so gegensätzlichen Figuren unserer Epoche haben, so scheint es, also etwas Fundamentales gemein: Grenzverlust. Heimatverlust. Identitätsverlust. Beide, Homo sacer und Homo faber, haben ihren Geborgenheitsraum verloren: der eine den physischen, der andere den metaphysischen. Auf je unterschiedliche Weise sind beide auf der Suche nach Heimat in Zeiten permanenter Mobilität.“
Tatsächlich lässt sich die Dynamik des vergangenen Wahlkampfes ohne diesen Aspekt eines populären Gefühls der Heimatlosigkeit nicht verstehen. Es war die sogenannte Alternative für Deutschland, die mit dem Ruf nach nationaler Geborgenheit die etablierten Parteien vor sich her getrieben hat und mit der Forderung nach „Grenzschutz“ das politische Motiv der Auseinandersetzungen lieferte. Im Mittelpunkt standen dabei weniger die systemischen Fragen nach den Fluchtursachen selbst, sondern die Bewältigung der Symptome und Krisen, welche die Realität des globalen Kapitalismus zuverlässig entfaltet. Der konkrete Zustrom von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen nivelliert dabei auch die alten Seh- und Erfahrungsgewohnheiten und schafft einen Erfahrungsraum, der die Idee von Distanz und Nähe verändert.
Das alte Ideal der Besonnenheit im Umgang mit politischen Herausforderungen wird heute durch die sozialen Medien erschwert. Das alte Kommunikationsmodell, Sender sendet Signal an Empfänger, wird durch die Möglichkeiten massenhaft versendeter Botschaften wesentlich verändert. Es geht zunehmend um die Quantität der Meldungen, nicht mehr um ihre Qualität. Es wird um Assoziationshoheit gekämpft, insofern, als die Verknüpfung von Bildern mit guten oder schlechten Assoziationen meinungsbildend wird.
Gleichzeitig verstärken die neuen Medien die Erfahrung von Konflikten, sie sind potentiell unbegrenzt und sie erreichen jeden Empfänger ganz unabhängig davon, ob er vom Phänomen konkret betroffen ist. Gefragt ist so eine permanente Haltung des Ja oder Nein. Schüle fasst die Wirkung der Massenkommunikation auf den Zustand der Empfänger so zusammen: „Die Schere zwischen Pro und Contra spaltet sich mehr als jene zwischen Arm und Reich. Der Gesinnungsfuror zwingt jeden Einzelnen zur klaren Kante seiner bürgerlichen Selbst-Verortung in Zeiten von Kriegen und Krisen: Auf wessen Seite stehst du, Kamerad?“
Die Politisierung auf algorithmischer Grundlage eines Ja oder Nein, Freund oder Feind, gipfelt in der zunehmenden Tendenz, physische und geistige Heimat alleine in einer Negation, in der Abgrenzung vom Anderen zu gewinnen. Die Rechtspopulisten setzen darüberhinaus darauf, den Zuwanderer, der keine Heimat beanspruchen soll oder darf, auch systematisch auszugrenzen.
Die verbreitete Abhandlung der muslimischen Präsenz in Deutschland unter dem Stichwort der „inneren“ Sicherheit, wird insoweit von der AfD abgründig konsequent fortgeführt. Sie läuft unter anderem auf den Begriff einer „islamischen“ Kriminalität hinaus, die sich angeblich aus der Offenbarung ergeben soll und dem nur entrinnt, wer sich nach dieser Logik komplett vom Islam de-assoziiert. Das AfD-Phantasma einer „islamischen“ Zuwanderung begleitet zudem die absurde Vorstellung, dass jede x-beliebige (Straf-)Tat eines Zuwanderers dem Islam direkt zuzurechnen sei.
Es ist kein Zufall, dass die Ausgrenzung der muslimischen Präsenz, gerade mit dem Begriff des angeblichen Kampfes um den öffentlichen Raum, dem Heimatraum, einhergeht. Das Phantasma der Burka gilt hier als imaginäres Feindbild, dass die symbolische Ordnung gefährdet, obwohl die reale Gefahr, ausweislich einer Handvoll Burkaträgerinnen in Deutschland, erst mühsam konstruiert werden muss.
Die selbsternannten Bewahrer von Heimat, die aus einem Gegensatz, der Abwehr des Fremden, ihre Position entwickeln, müssen daher immer wieder neu behaupten, dass der Fremde potentiell gefährlich und nicht integrierbar sei. Von dem Ausnahmefall ausgehend, dem Straftäter, wir so auf eine Neigung der ganzen Gruppe zum Extrem geschlossen. Selbstverständlich ist auch ein konkreter Beitrag für die Verwirklichung heimatlicher Räume, der so Ausgegrenzten, aus dieser, rechtspopulistischen Sicht undenkbar.
Es gehört zu der starken Seite der Bemühungen Schüles um seinen neuen Heimatbegriff, dass er nicht nur die Probleme gescheiterter Integration aufzählt, sondern auch darüber nachdenkt, wie eine neue Heimat, die nicht auf die Fiktion biologischer Unterschiede setzt, funktionieren könnte. Für den Kulturwissenschaftler kommt hier dem in Vergessenheit geratenen Begriff des „Oikos“ eine signifikante Rolle zu: „Der Oikos – worin Ökonomie und Ökologie gleichermaßen begriffen sind, generiert das wichtigste Bindemittel zerfallender Gemeinschaften: das Gefühl der Beteiligung. Das Gefühl zu brauchen und gebraucht zu werden.“
Es geht Schüle also um nichts weniger als die intelligente Einbindung der Flüchtlinge oder Immigranten in die Gemeinschaft, als eines der wichtigsten Zukunftsprojekte unserer Zeit. Im Fall der Muslime in Deutschland also auch darum, nicht nur den sogenannten politischen Islam als ein Feindbild zu pflegen, sondern auch die soziale, ökonomische und kulturelle Kompetenz von Muslimen endlich als einen gesellschaftlichen Zugewinn zu verstehen.
Schüle sieht dann auch unter diesem Blickwinkel in den städtebaulichen Konzepten der islamischen Welt, er nennt das Beispiel Istanbul, durchaus etwas, wovon man hier lernen könnte. Hier ergibt sich dann – im Umkehrschluss – gleichzeitig die Frage an die Muslime selbst: Wie verstehen sie eine gute Nachbarschaft, was tragen sie für ihr Stadtviertel bei oder wie konzipieren sie künftig Moscheeanlagen, die auch als soziale Dienstleister für Nichtmuslime gleichermaßen zugänglich und hilfreich sind?
Die aktive Aufforderung zur Teilnahme an der Schaffung von neuen heimatlichen Räumen, ist so das Gegenmodell für eine passive Haltung, die sich bei Muslimen ja leider durchaus feststellen lässt, die sich in Form der Flucht in Utopien, einer eigenen nationalistisch angehauchten Identitätspolitik, oder in Zuständen der „inneren Immigration“ zeigt.
Es wird wichtig sein, zu verstehen, dass die Erfahrung von Heimatverlust, sei es im Betrieb unserer modernen Städte oder in der Langeweile der Provinz, heute niemanden exklusiv auszeichnet. Hier wird zunächst ganz allgemein ein Gefühl unserer Zeit, unserer condition humaine, an sich beschrieben. Nimmt man das ernst, dann zeigt sich gerade der Umgang mit globaler und grenzenloser Technik als die entscheidende Frage unserer Epoche. Die Idee, man könne sich vor dieser Dynamik einfach hinter Mauern verstecken, zeigt sich dann in dieser Verortung als das, was es ist: eine Phantasie.