– Text eines, am 22. April in Aachen gehaltenen Vortrages:
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Muslime,
Ich freue mich, heute Abend hier in Aachen zu Ihnen über das Thema „Hinterfragung des Kapitalismus und des Zinssystems“ sprechen zu dürfen. Vorab möchte ich allerdings anmerken, dass ich Ihnen heute natürlich kein vollständiges ökonomisches „System“ oder gar endgültige Lösungen zur Lösung der Finanzkrisen dieser Zeit vorstellen kann. Ich möchte vielmehr versuchen, die konkrete Frage nach dem Zins in seiner aktuellen Bedeutung vorzustellen und in den erweiterten Kontext historischer, ökonomischer und politischer Zusammenhänge zu stellen.
Ich habe mir für den heutigen Abend folgende grobe Gliederung vorgestellt:
• Die Globalisierung und die „Politisierung des Islam“,
• die Basis und Ökonomie des Islam,
• Zinsdebatten – gestern und heute,
• Einschub: Goethe, Faust und die Zettelbanken,
• Was ist eigentlich Geld?,
• Finanzkrisen und TINA,
• Alternativen aus islamischer Sicht – gibt es sie?
Wir Juristen neigen zur Differenzierung, zum Abwägen der Argumente. Das ist vielleicht hilfreich, werden doch heute die „ökonomischen Debatten“ des Öfteren mit religiöser Inbrunst vorgetragen. Es geht hier ja um grundsätzliche Fragen, man könnte sogar sagen „Glaubensfragen“, die aber gerade an den Rändern der Gesellschaft mit dem (verdächtigen) Anspruch auf absolute Wahrheiten vorgetragen werden.
Erschwerend kommt hinzu, dass es inzwischen eine unübersichtliche Flut von Veröffentlichungen zu dem Thema gibt. Es gibt heute allein bei amazon.de circa 60.000 verschiedene Titel zum Thema „Geld und Finanzkrisen“.
Wichtig ist mir, Ihnen andere Denkwege, Sichtweisen und Perspektiven zur Islamdebatte vorzustellen, die eben nicht „nur“ um das heute dominant gewordene Thema oder Problem des politischen Islam kreisen. Die Gefahr in diesem rein politischen Ansatz besteht, dass Muslime und Nicht-Muslime die sonstigen – für ein Gesamtverständnis unabdingbar wichtige – rechtlichen, sozialen und ökonomischen Aspekte des Islam verdrängen.
Fakt ist: Nach der Finanzkrise 2007 war der Islam und seine ökonomische Lehre als Teil einer ökonomischen Lösung anerkannt. Nach dem gefährlichen Aufflammen des Terrorismus, und der Politik des so genannten Islamischen Staates, ist der Islam wieder ausschließlich als „Teil eines politisches Problems“ in der Debatte angekommen.
1. Die Politisierung des Islam
Zweifellos schreitet heute die „Politisierung“ des Islam stetig voran. Sie wird übrigens von muslimischen und nicht-muslimischen Akteuren forciert. Um dieses Phänomen besser zu verstehen, müssen wir uns zunächst an einer grundlegenden Begriffsdefinition versuchen. Zunächst sollten wir uns fragen, wie wir eigentlich den so genannten „politischen“ Islam definieren wollen.
Ulrich Rudolph definiert zum Beispiel, in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3.11. 2014 den politischen Islam als eine „Erwartungshaltung mit einem politischen Heilsversprechen“. Rudolph führt aus: „Es (das Heilsversprechen) besagt, dass mit der Rückkehr zum reinen Islam schon hier und jetzt eine vollkommene islamische Ordnung entstehen könne, die alle Bereiche des Lebens regele und eine ideale, allen anderen überlegene Gemeinschaft formen werde.“
Die Definition passt natürlich leider Gottes zu den Versuchen des IS, eine andere Welt mit Gewalt und Terror herbeizuführen. Ich schlage Ihnen heute Abend, auch im Hinblick auf unsere spätere Diskussion, aber einen anderen, möglichst wertfreien Definitionsversuch vor: „Politischer Islam ist für mich die Idee eines gesellschaftliches Modells, das Erkenntnis, Agenda, Praxis und Recht der Muslime politischen Zielen und (Macht-) Interessen absolut unterordnet. Je nach Fall ist der Staat dabei Ziel oder Gegner.“
Zweifellos gehört zur Denkweise des modernen politischen Islam, dass er dem Staat entweder als Gegner gegenübersteht oder aber der Staat als Ziel eigener Machtpolitik dient. Die These ist hier natürlich nicht, dass der Islam generell keine „Politik“ kennt oder ausübt (man denke nur an die Zakat), wohl aber, dass er keineswegs ein politisches System moderner Prägung darstellt. Der eindrückliche Ursprung des modernen politischen Islam ist seine Reaktion auf die Machtansprüche der Kolonialmächte. Die Idee ist dabei, den Staat, die Banken und die neuen Techniken der Macht zu islamisieren. Hierbei verkennt der politische Islam die Argumentation Carl Schmitts, also dass 1. „alle Begriffe der modernen Politik und Staatslehre säkulariserte theologische Begriffe sind“ und 2. die modernen Machttechniken religiöse Inhalte neutralisieren.
Die Entstehung des Nationalstaates ist zweifellos ein entscheidender Wendepunkt im islamischen Selbstverständnis. Für den libanesischen Gelehrten Wael bin Hallaq, in seinem Buch The impossible state detailreich ausgeführt, ist die Idee eines „islamischen“ Staates sogar eine Art Paradox. Für ihn ist die ursprüngliche Tradition des Islam, seine zivilgesellschaftliche Lebenswirklichkeit und seine ganzheitliche Ordnung geistiger, sozialer und ökonomischer Einrichtungen in keinem Fall mit der Struktur eines modernen Staates zu vergleichen.
Hier ein weiterer kurzer Einschub, als Anregung gedacht, zum (National-)Staat als absoluten, fixen Bezugspunkt des modernen politischen Denkens. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu geht in seinen Vorlesungen „über den Staat“, unlängst in Deutsch veröffentlicht, auf diese Problematik ein. So beschreibt er eindrücklich das problematische Denken rund um den Staat: „Je weiter ich in meiner Arbeit über den Staat vorankomme, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass die besondere Schwierigkeit, dieses Objekt zu denken, darin liegt, dass es – ich wäge meine Worte – beinahe undenkbar ist. Wenn es so einfach scheint, über diesen Gegenstand einfache Dinge zu sagen, so liegt es daran, dass wir von dem, was wir untersuchen wollen, in gewisser Weise schon durchdrungen sind.“
Für Bourdieu beginnt dabei die moderne Allmacht des Staates mit drei expliziten Machtmanifestationen: Die Bestimmung des Kalenders, die Vereinheitlichung der Maßeinheiten und der Prägung des Curriculums von Schulen (den Schulfächern). Darüber hinaus weist er auch auf die theologische Dimension des Denkens über den Staat hin (und erinnert an die obige Aussage Schmitts): „Achtung, alle Sätze die den Staat als Subjekt haben, sind theologische Sätze – was nicht heißt, dass sie falsch wären, insofern der Staat eine theologische Entität ist, das heißt, eine Entität, die durch den Glauben existiert.“
Das Verhältnis von Bank und Staat ist dabei für das Verstehen moderner Staaten unabdingbar und bleibt auch in seinen Wirkungen vom politischen Islam unberücksichtigt.
Dabei ist die Frage der Machtverhältnisse zwischen Regierenden und Bankiers von jeher ungeklärt („Wer regiert wen?“) Der Kulturphilosoph Joseph Vogl zeigt in seinem aktuellen Sachbuch Der Souveräntitätseffekt die Geschichte dieses epochemachenden Verhältnisses auf.
Er schreibt zur Geschichte der ersten Bank von England, gegründet 1694: „Immer wieder wurde mit der Bank of England die Verwandlung von Notstand und Ausnahmesituation zu regulären Regierungsfunktionen erkannt und somit die Position einer Macht, die sich der Verantwortung gegenüber dem Gesetzgeber entzieht und von der Verfassung nicht einmal den exekutiven Organen zugebilligt wird.“
Dieses Thema – also das Machtverhältnis von Staaten und Banken – wird in der westlichen Welt bis heute problematisiert. Trotz aller berechtigten Furcht vor dem radikalen politischen Islam ist das Problem der Finanztechnik nicht nur von systematischer Natur, sondern auch die eigentliche Herausforderung gegenüber der demokratischen Idee. Vogl spricht heute sogar von einem „Finanzregime“, dass die politische Souveränität von Staaten längst untergraben hat. Auch Simon Johnson, der frühere Chefs-Volkswirt des IWF erklärte unlängst passsend: „Die Finanzbranche hat die Politik gekapert. Das ist die Bedrohung der Demokratie.“
Was ist hier über den Zielen des politischen Islam hinaus, mit der „Politisierung des Islam“ gemeint? Einige Stichpunkte seien hier genannt:
– Der politische Islam (in allen Facetten) bestimmt Denken und Handeln der Muslime,
– politische Kategorien bestimmen dabei zunehmend das Erkenntnisverfahren. (liberal-konservativ),
– dialektisches Denken und die Heraushebung von Gegensätzen wird populär – „organisiert-individuell“, „Freund-Feind“,
– für islamische Organisationen wird die „Machtsteigerung“ zum Leitmotiv.
2. Die Basis und Ökonomie des Islam
Die Frage, der wir uns nun zuwenden wollen, nachdem wir die moderne „Politisierung des Islam“ zumindest angerissen haben, ist, ob die Basis der islamischen Lebenswirklichkeit tatsächlich ausschließlich „politisch“ ist. Dabei ist für uns von vornherein klar, dass der Islam keine Ideologie ist. Die Antwort – auf die Frage, ob der Islam nur „politisch“, also eine Art politische Theologie, ist – kann damit natürlich nur „nein“ sein. Versuchen wir also, um ein kompletteres Bild vom Islam zu gewinnen, das Phänomen des islamischen Wirtschaftsmodells konkreter zu fassen.
Tatsächlich geht es im Islam nicht nur um unser persönliches Verhältnis zum Schöpfer, sondern genauso auch um öffentliche Vertragsbeziehungen aller Art. In der islamischen Terminologie spricht man von „‘Ibadat“ und „Mu’amalat“. Wir verfügen zum Beispiel über eine detaillierte Überlieferung diverser Vertragsmodelle, ein ausführliches Marktrecht und diverse Handelsmodelle.
Aus Zeitgründen kann ich nur auf drei wichtige Prinzipien der „islamischen Ökonomie“ und des „islamischen Wirtschaftsrechts“ eingehen. Sie ergeben sich aus dem Koran, dem Leben des Propheten und den einschlägigen Rechtsbüchern.
A) Handel im gegenseitigen Einvernehmen (Fair trade)
In der folgenden Sura An-Nisa (4:29) findet sich zum Beispiel eines der fundamentalen Prinzipien islamischer Ökonomie, nämlich das Gebot den Handel im gegenseitigen Einvernehmen zu betreiben: „Oh, die ihr glaubt, zehrt nicht euren Besitz untereinander auf nichtige Weise auf, es sei denn, dass es sich um einen Handel in gegenseitigem Einvernehmen handelt. Und tötet euch nicht selbst (gegenseitig). Allah ist gewiss Barmherzig gegen Euch.“
B) Moschee und Markt (Sunna)
In den Sira-Büchern (zum Beispiel Ali Ibn Ahmad Al-Sarhudi in Die wahrhaftigen Nachrichten von der Bleibe al-Mustafas) liest man den Bericht über einen wahrlich fundamentalen Vorgang. Nachdem der Prophet – Friede sei mit ihm – die Moschee etabliert hatte, sah er die Notwendigkeit für einen Markt der Muslime. Der bestehende Markt in Madina erlaubte Riba und außerdem wurde auch Wein verkauft. Er ging zu einem Ort in der Nähe des Marktes von Bani Qainuqa’ und errichtete ein Zelt, als Zeichen für den Ort, um den die Muslime sich künftig versammeln sollten, um zu kaufen und zu verkaufen.
Seine Gegner wurden wütend darüber und ihr Anführer – Ka’b ibn Aschraf – zerstörte das Zelt. Der Prophet antwortete indem er ausrief: „Ich werde sicher einen Markt etablieren, der sie sogar noch wütender machen wird. Ich werde ihn an einen anderen Platz verlegen.“ Der Prophet ging auf eine offene Fläche, kaufte das Land von dem Eigentümer, sprang mit beiden Füßen darauf und rief: „Das ist euer Markt. Verweigert niemanden den Zugang darauf und erhebt dafür keinerlei Steuern.“
Wir stellen also fest, dass auf dem Marktplatz und in der Moschee ein ähnliches Prinzip herrscht, denn niemand hat in beiden Einrichtungen das Recht eine monopolartige Präsenz zu etablieren, niemand kann dauerhaft einen bestimmten Platz für sich vereinnahmen.
C) Freie Marktwirtschaft
Ein weiteres wichtiges Postulat mit größter Bedeutung findet sich eben in der Sura Al-Baqara (2:275): Allah hat den Handel erlaubt und die Zinsnahme (Riba) verboten.
Hier finden wir also ein Bekenntnis zu freiem Handel, allerdings unter Ausschluss von – aus islamischer Sicht – illegalen Wirtschaftsmethoden wie zum Beispiel das Verbot von Riba (arab. Exzess, Überschuss), dass unter Anderem das Verbot der Zinsnahme umfasst. Qadi Abu Bakr definiert den im Islam verpönten Sachverhalt in seinem Ahkam al-Quran als: “Jeder Überschuss zwischen dem Wert gegebener Güter und ihrem Gegenwert (dem Wert empfangener Güter).“
„Riba“ ist mehr als nur die einfache Zinsnahme und Gegenstand weitläufiger wissenschaftlicher Betrachtungen islamischer Gelehrter. Wir Muslime sprechen konkret von Riba al-Fadl (Überschuss des Merhwertes, bezieht sich auf Mengen) und Riba al-Nasiah (Überschuss in der Verzögerung, bezieht sich auf unzulässige zeitliche Verzögerungen).
In dem Sahih Hadith von Masrouq, von Abdallah vom Gesandten Allahs wird überliefert: „Riba hat 73 Tore“ – das heißt man kann Riba in 73 verschiedenen Formen vorfinden.
3. Zinsdebatten im engeren Sinne
Es ist das kategorische Verbot der Zinsnahme und die dazugehörenden Ermahnungen im Koran, die heute von Freund und Feind kaum zitiert werden, aber heute nach wie vor Aktualität beanspruchen können. Während es bei der Zakatnahme darum geht, Reichtum der Reichen zu den Armen zu lenken, geht es bei dem Verbot der Zinsnahme um das Gegenteil, also den existenzbedrohenden Abfluss von Mitteln der Schuldner zu verhindern. Bevor wir aber die aktuelle Bedeutung der „Zinsbedebatte“ betrachten, müssen wir uns kurz die historischen Dimensionen der Zinsdebatte vergegenwärtigen.
Schon der griechische Philosoph und Begründer der europäischen Politikwissenschaften Aristoteles erwähnt die Gefahren der „Zinsnahme“. In seiner Politea heißt es: „Das Geld ist für den Tausch entstanden, der Zins weist ihm aber die Bestimmung an, sich selbst zu vermehren. Daher widerstreitet diese Erwerbsweise unter allen am meisten dem Naturrecht.“
Nicht nur im Islam, auch im Judentum und Christentum spielt das Zinsverbot eine Rolle, die ich in meinem Buch Weg mit dem Zins ausführlicher beschreibe. Exemplarisch sei hier eine Aussage von Thomas von Acquin (1225-1274) erwähnt: „Zins nehmen für geborgtes Geld ist an sich ungerecht, denn es wird verkauft, was nicht ist, wodurch ganz offenbar ungleich gebildet wird, die der Gerechtigkeit entgegen ist.“
Aus der historischen Debatte, die sich meist um den „Wucher“, als eine sehr hohe Zinsforderung dreht, ergeben sich auch historische Belastungen. Der Antisemitismus Martin Luthers, angesichts der Leihgeschäfte der jüdischen Geldverleiher seiner Zeit, wurde unter Anderem zur Grundlage der anti-semitischen, verbrecherischen „Wirtschaftsideologie“ der Nazis. Heute sind diese Tendenzen in abstrusen Verschwörungstheorien oder aber in einer fragwürdigen Terminologie („Zinslobby“) versteckt.
Gehen wir nun aber wie angekündigt auf die aktuelle Debatten über den Zins ein. Das Problem des Zinses ist heute in praktischen allen Volkswirtschaften, natürlich auch in islamischen Ländern, zu beobachten. Zunächst müssen wir natürlich – nach unseren historischen Betrachtungen – einsehen, dass die heutige Bedeutung des „Zinses“ eine völlig andere ist, wie unter den Verhältnissen des ursprünglich angeprangerten Wuchers. Hier und jetzt geht es also um eine „strukturelle Zinskritik“, die auch unter anderem als ein Dialog der Religionen verstanden werden kann.
Hier sollten wir die Argumente der heutigen „Zinskritiker“ und „Zinsbefürworter“ kurz reflektieren. Hier sind die alternative Österreichische Schule und die Schule der Gesellianer für Muslime zumindest partiell interessant. Die Österreichische Schule sieht vor allem im modernen Notenbankensystem und ihrem Vermögen, „Geld aus dem Nichts zu schaffen“, das Kernproblem der heutigen Ökonomie. Die Vertreter der Schule fordern eine Wettbewerbsfreiheit der Tauschmittel, die, so das Argument, unter normalen Umständen zur Wahl von Gold- und Silberwährungen führen würde. Im Gegensatz zu den Gesellianern, die im Zinsphänomen die entscheidende Systemverschärfung erkennen, sehen die Österreicher im Zins nicht wirklich ein grundsätzliches Problem.
Die Kernargument der Zinsbefürworter kann man wohl wie folgt – hier mit den Worten des ehemaligen FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler – wie folgt zusammenfassen: „Die Zinskritiker verkennen die wichtige Funktion des Zinses in einer Marktwirtschaft. In der idealen Welt ist der Zins der Preis für den Verzicht im Heute, um im Morgen investieren oder konsumieren zu können. Dessen Höhe drückt zudem das Ausfallrisiko aus. Gerade diese Korrekturgröße schalten die Notenbanken durch ihre Geldpolitik aus.“
Das spannende Gespräch zwischen Muslimen und der Österreichischen Schule über diese Themen hat in den letzten Jahren begonnen. Das islamische Wirtschaftsrecht ist dabei ein Mittelweg, dass die Freiheit der Auswahl der Tauschmittel bestätigt, die Skepsis gegenüber modernen Banken teilt und im Übrigen die Beschränkung des Zinsverbotes mit den Möglichkeiten islamischer Verträge ergänzt. Das Ideal des islamischen Wirtschaftsmodells ist dabei nicht, Geld zu horten, sondern mit fairer Risikoteilung stetig in Umlauf zu bringen.
Alle denkenden Menschen dürften sich heute aber einig sein, dass der „Zins“ in der aktuellen Situation der extremen „Verschuldung“ und gigantischer Geldmengen natürlich dramatische Folgen haben kann. Wahr ist, wir können die Debatte über den Zins heute überhaupt nur sinnvoll führen, wenn wir auch die „Ethik der Geldproduktion“ mit ins Visier nehmen. Um die neuen Dimensionen und Veränderungen durch die „Geldproduktion“ im Zusammenhang mit Kapitalismus und Zinsfrage zu verstehen, müssen wir uns einige weitere „historische“ Gedanken machen.
4. Einschub: Goethe, Faust und die Zettelbanken
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) lebt in der Epoche der Zusammenkunft von Monarchien und neuen Techniken der Macht. Er ist nicht nur als Verfasser des Diwans für uns Muslime relevant, sondern auch als politischer Denker seiner Zeit hochinteressant. In einem Brief schreibt ihm Kant noch am 2.10.1809 „die Politik ist das Schicksal“. Goethe selbst ahnt aber bereits die geschichtsmächtige Kraft der neuen technischen Innovationen. Besonders interessiert ihn auch die neuen Banken (die „Zettelbanken“) und ihr Verhältnis zur Politik. Der Dichter erkennt das ungeheure Potential der neuen Papiergeldwährungen und thematisiert dieses Phänomen in seinem Faust.
Faust II: „Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. Ihm liegt gesichert als gewisses Pfand, Unzahl vergrabenen Guts im Kaiserland. Nun ist gesorgt damit der reichste Schatz, Sogleich gehoben, diese zum Ersatz.“
Carl August beauftragt ihn 1793 zu einem Münzgutachten im Zusammenhang mit der Macht der neuen „Zettelbanken“. In dieser Zeit gibt es dutzende verschiedenen Silberwährungen in den deutschen Fürstentümern. Goethes Ergebnis zeigt allerdings seine Skepsis gegenüber dem Papiergeld. Er urteilt: „Geld muss einen innewohnenden Wert haben.“
Sein Denken ist so natürlich noch immer hochaktuell. Der Chef der deutschen Bundesbank hat dies in einem Vortrag mit dem Titel Traf Goethe ein Kernproblem der Geldpolitik? erläutert. Auch für muslimische Historiker dürfte die Einführung des Bankwesens in der islamischen Welt in diesem Kontext interessieren.
5. Was ist denn überhaupt „Geld“?
Das Phänomen „Geld“, das offensichtlich schon Goethe beschäftigte, sollten wir uns kurz aus philosophischer und islamischer Sicht vergegenwärtigen. Wenig überraschend spielt es auch im Kontext des Islam eine wichtige Rolle.
Man denke nur an Pflicht die Zakat zu bezahlen, die mit echtem Geld „‘ain“ (Cash) nicht in „dain“ (Zahlungsversprechen) zu bezahlen ist. Dabei ist auch klar, dass auch in der islamischen Welt über Jahrhunderte nur Gold und Silber als Tauschmittel benutzt wurde. Es wird aber inzwischen auch im islamisch geprägten Denken oft ausgeblendet, dass Geld eigentlich ein „Marktphänomen“ ist. Carl Menger (1840 – 1924) erkannte: „Geld, das allgemein akzeptierte Tauschmittel, entsteht spontan aus dem freien Markt, ohne ein Dazutun des Staates, und zwar entsteht es aus einem Sachgut.“
Das islamische Recht zwingt Menschen nicht, ein bestimmtes Tauschmittel zu verwenden. Der fundamentale Unterschied zwischen – beispielsweise – Gold und Papiergeld ist dabei, die natürliche Begrenzung des Rohstoffes gegenüber der endlosen Reproduzierbarkeit des Papiergeldes.
6. Finanzkrisen holen uns ein oder „von Bretton Woods bis zur dicken Berta“
Heute, nach dem Ende der Goldbindung 1971 in dem Vertrag Bretton Woods wird die Dynamik der entfesselten Papiergeldproduktion immer stärker hinterfragt. Der damalige US-Präsident Richard Nixon stoppte am 15. August 1971 die nominale Goldbindung des Dollar; unter anderem, um den Vietnamkrieg zu finanzieren.
Vorläufiger Höhepunkt des „Schaffens von Geld aus dem Nichts“ ist wohl das so genannte Quantative Easing. Sie wird heute als Lösungsansatz der Finanzkrise angeboten.
Wenn eine Notenbank die Wirtschaft stimulieren will, senkt sie normalerweise den Leitzins. Die Geschäftsbanken können sich bei ihr dann billiger Geld besorgen – und die günstigeren Finanzierungsbedingungen an Verbraucher und Unternehmen weitergeben. Das Problem: In der Eurozone liegt der Leitzins schon lange nahe Null, ohne dass die Konjunktur anspringt. Auch unkonventionelle Maßnahmen wie milliardenschwere Sonderkredite für die Banken (EZB-Chef Mario Draghi nannte das Programm scherzhaft „Dicke Bertha“) oder zuletzt der Aufkauf spezieller Bankanleihen haben die Lage nicht substanziell verbessert.
Darum greift die EZB nun nach amerikanischem Vorbild zur letzten Waffe im Notenbankarsenal – Quantitative Easing (QE). Sie ist der Höhepunkt der wundersamen Geldvermehrung. Die europäischen Zentralbanker vermehren nochmals die Geldmenge, indem sie Banken und Großinvestoren in gigantischem Ausmaß Staatsanleihen abkaufen. Dahinter steht das Kalkül, dass die Investoren das Geld, das sie von der EZB bekommen, in riskantere Wertpapiere wie Aktien oder Unternehmensanleihen stecken. Dadurch soll der Wirtschaft frisches Kapital zufließen, was schließlich in reale Investitionen und neue Jobs münden soll.
Das Phänomen gigantischer Schaffung von Geld verändert heute zweifellos das Wesen des Kapitalismus und berührt natürlich auch die Zinsfrage. Das Schicksal ganzer Staaten im Euroraum hängt inzwischen an der Durchsetzung niedriger Zinsen. Letztendlich sind aber auch die aktuelle Bankenkrise, Schuldenkrise und die Gefahren der Blasenwirtschaft mit der Geldproduktion verbunden.
Zwei Zusammenhänge der steigenden Geldmenge sind besonders bedeutsam und potentiell explosiv:
1) Inflation und 2) Zinsentwicklung
Der Zusammenhang von QE und Geldentwertung (Inflation) ist dabei in seinem Gefahrenpotential umstritten. So schreibt Thorsten Polleit, auf der Seite Fonds Online vom 27.9.2014: „Die Zentralbanken wollen die Zahlungs- und Konjunkturprobleme, die sie durch die ungedeckte Papiergeldausgabe selbst verursacht haben, mit der Ausgabe von immer neuem Geld lösen. Das wird so weit getrieben, bis die vermeintliche Problemlösung – das Geldmengenvermehren – selbst zum zentralen Problem wird: der offen zu Tage tretenden Geldentwertung.“
Zum anderem Zusammenhang, also Schulden und Zinsen, dient eine Kalkulation des Bundes deutscher Steurzahler, die allerdings ohne das Phänomen „Zinseszins“ berechnet ist: „Die deutsche Staatsverschuldung wächst und wächst. Bund, Länder und Gemeinden sowie ihre Extrahaushalte waren am 30. September 2013 mit rund 2.024 Milliarden Euro verschuldet. Zur Veranschaulichung dieser Zahl dient folgendes Gedankenspiel: Ab sofort werden keine Schulden mehr aufgenommen und die öffentliche Hand gesetzlich verpflichtet, neben allen anderen Ausgaben jeden Monat eine Milliarde Euro an Schulden zu tilgen. Mit dieser Verpflichtung würde es bis ins Jahr 2184 dauern, um den Schuldenberg der Bundesrepublik Deutschland vollständig abzutragen.“
Die Lage ist also durchaus angespannt, denn es drohen eine Währungsreform, schleichende Enteignung (Inflation) oder aber der Zwang zum ewigen Wachstum. Viele Fachleute erwarten über kurz oder lang den Zusammenbruch des globalen Finanzysystems.
7. Islamische Alternativen vs TINA („There is no alternative“)
Warum gibt es keine Alternativen? Vergegenwärtigen wir uns die aktuelle Krise aus islamischer Sicht, stellt sich dabei die Frage ob der Islam Teil einer vernünftigen Lösung sein könnte. Als Muslime müssen wir natürlich insbesondere die absurde Idee „ewigen Wachstum“ zurückweisen.
Wollen wir uns also an diesen Debatten künftig beteiligen, müssen wir zeigen können, dass der Islam auch Lösungsansätze hat. Hier gibt die aktuell Finanzkrise, als die Krise unserer Zeit, eine Vorlage. Leider werden zu diesem Thema kaum muslimische Experten vernommen. Während wir heute intensiv „moralisch“ über „Kopftücher“ diskutieren, stellen wir bisher kaum die Frage nach der „Ethik der Geldproduktion“.
Die Frage nach dem Wesen des im Umlauf befindlichen Geldes und seiner moralischen Qualität stellt auch die „Islamische Bank“ nicht. Das „ethische“ Banking agiert dabei nicht auf einer Insel, sondern ist letztlich integrierter Teil des fragwürdig gewordenen Systems internationaler Banken. Ihr – diesbezüglich – durchaus fragwürdiges Modell propagiert zwar das zinslose Wirtschaften, allerdings meist nur, um den Zins in „Gebühren“ oder hintereinander geschalteten Transaktionen zu verstecken.
Wir müssen also beginnen, über die Vision einer „riba-losen Gesellschaft“ im weiteren Sinn nachzudenken. Wichtig ist dabei, die Geschichte unseres eigenen Wirtschaftsmodells, seine Institutionen und sein Recht im Unterschied zum modernen Bankensystem zu beleuchten. Gerade der politische Islam hat sich dieser Auseinandersetzung bis heute nicht gestellt. Für den politischen Islam ist die Bank nur eine weitere Machtoption.
Wenden wir uns also zum Schluss der Frage zu, ob die genannten Debatten rund um das islamische Wirtschaftsrechts auch in konkrete Projekte münden könnten. Natürlich kann man nicht „freie Märkte“, „Stiftungen“ oder „fairen Handel“ einfach politisch anordnen, denn sie entstehen ja gerade (von unten nach oben) aus dem freien Wirkungsfeld von Zakat, Moscheen, Märkten und Stiftungen. Diese Einrichtungen dürfen gerade deswegen nicht (von oben nach unten) politisiert oder verfremdet werden!
In der Islamischen Zeitung haben wir immer wieder die Basis der zivilgesellschaftlichen Dynamik zwischen Moschee und Markt vorgestellt. Auch dieser Vortrag deutet insoweit nur die Fragestellungen an, die unsere Rechtsgelehrten, Historiker und Volkswirte in dieser Zeit zu bedenken haben. Hierbei geht es nicht um die Romantisierung der Vergangenheit, sondern um eine neue Rückbesinnung auf das Modell, dessen Sinn, angesichts der größten Finanzkrise der Menschheitsgeschichte, in neuem Licht erscheint.
Wenn wir hier eines Tages schlüssig durchdachte, alternative Modelle anbieten können, verhindern wir auch die Neigung der modernen Geld- und Wirtschaftssystem, sich als alternativlos zu präsentieren. Hierfür könnten sich auch viele Europäer interessieren.
Die hier problematisierte und kritisierte „Politisierung des Islam“ behandelt das Verhältnis von Politik, Ökonomie und Recht und betrifft, oder besser beschädigt, zweifellos die innere Balance des islamischen Lebens.