Die Unterscheidung zwischen Modernismus und Tradition ist für Nichtmuslime und Muslime ein spannendes Thema. Man könnte statt „spannend“ auch „entscheidend“ sagen. Als islamischer Modernismus tritt der Islam im „Kleid der Technik“ als Partei, Bewegung, Banking, Ideologie und in seiner radikalsten Form als Terrorismus auf. Es ist interessant, dass die Regierung in Marokko, leidgeprüft vom Wahhabismus und Terrorismus, in der traditionellen Verortung der Muslime im Lande (siehe http://www.habous.gov.ma) das eigentliche Gegengift zum Terrorismus sieht. Traditionelles Wissen heißt immer auch Maßhalten-Können.
In der modernen Welt will der radikal-moderne Islam die Welt als Raum besetzen, mit Atombomben kämpfen und vermutlich auch auf dem Mond die Schari’a etablieren. Der Islam der Tradition denkt zunächst an die Bedürfnisse der Menschen vor Ort, das Gebet und die Zakat, an Märkte und Stiftungen. Ernst Jünger, der wie Heidegger und viele andere geistige Größen Europas weder Rumi noch Ibn Al-‘Arabi kannte und damit nicht die Tradition des Islam, hat bei einer Begegnung in Bilbao, kurz nachdem ich Muslim wurde, den modernen Islam als einen der „Titanen“ beschrieben – und so den Islam verkannt.
Was Jünger nicht wusste: Der traditionelle Islam, in seiner Natur positiv, in seinem Denken unabhängig und in seiner spirituellen Erfahrung fern vom selbstmörderischen Nihilismus, bemüht sich weniger um den Raum, als um die Herzen sowie um die Offenheit der Handelswege. Dass der Schöpfer den Handel erlaubt hat und die Zinsnahme verboten, macht gerade für Europäer tiefen Sinn, sehen wir doch in Europa die Ungerechtigkeit der Umkehrung, wenn also der Handel verboten und die Zinsnahme erlaubt wird.
Natürlich sieht der arabische Modernismus die Tradition als rückständig und unmodern an, in Verkennung, dass die sufisch geprägten Traditionen die Technik nicht etwa ablehnen, sondern der Technik nur gelassen gegenübertreten. Die Universität Medina hat tausende Missionare nach Albanien, Bosnien und Kasachstan geschickt, um die Jahrhunderte alten, sufisch geprägten Traditionen als „rückständig“ zu bekämpfen. Diese Attacke fiel zunächst leicht, weil viele Muslime in diesen Regionen wenig von den alten Traditionen und ihrer islamischen Legitimität wussten. Ein Ergebnis des 11. September ist, dass diese Missionsbewegungen von Muslimen, die den Islam nun absolut korrekt praktizieren, endlich zurückgewiesen wurden.
Das Paradox: Die arabisch-islamische Welt ist an vielen Orten „technikgläubiger“ als der Westen selbst. Die Faszination der Macht, als Fernsehen, Bankenwesen und Parteien, geht sehr tief. Die Tradition hingegen fasziniert mit der Organik der alten Städte, dem sozialen Wohnen, der Feinheit der Lebenspraxis und den islamisch-urbanen Einrichtungen. Hier kommen die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte innerhalb der islamischen Weltgemeinschaft zum Tragen. Europäische Muslime, zum Beispiel auf dem Balkan, die traditionell geprägt sind, verknüpfen nun das Wissen um die Technik (z.B. die Erfahrungen mit politischer Ideologie) mit dem Wissen um die traditionelle Formensprache des Islam. Mit anderen Worten: Sie können unterscheiden, inwieweit moderne Techniken, sei es auch als Organisationstechnik, den Islam zutiefst verändern können.
Es gibt daher momentan zwei interessante Phänomene in Europa: Tausende Europäer, die zum Islam konvertieren oder zurückfinden, weil sie den Islam als Quintessenz ihres europäischen Wissens begreifen, und in Europa geborene Muslime, die einer tiefen Identitätskrise unterliegen. Der Straßenkampf in Frankreich könnte ein Vorzeichen eines Nihilismus sein, der lieber zerstört als aufbaut und bereits viele junge muslimische Europäer aus dem Islam herausgeführt hat. Anarchie ist eine im Islam absolut undenkbare politische Handlungsform. Die Tragik ist, dass diese jungen Muslime mit der Kultur ihrer Väter gebrochen haben und nicht wirklich mit dem Islam. Genauso wie die jungen türkischen Frauen in Berlin nicht wirklich vor dem Islam, wohl aber von sinnentleerter Kultur oder vor einem kleinbürgerlichen 3-Zimmer-Wohnung-Khalifat flüchten mussten.
Die meisten islamischen Organisationen in Europa verkörpern heute eine Zwitternatur: Sie sind zumeist weder wirklich demokratisch, noch traditionell wirklich islamisch verfasst. Mit anderen Worten, sie kennen weder freie Wahlen noch aber die basisdemokratische Tradition eines Amir und seiner Schura. Moderne Organisationen sind fasziniert von der (unislamischen) Idee, dass Macht organisierter Wille sei, also, dass man desto mächtiger ist, je mehr Mitglieder man organisieren kann. Zumeist verteidigen sie weniger den Islam als vielmehr eine kulturell-nationale Mischkultur mit mehr oder minder starken islamischen Einflüssen. Nach moderner politischer Logik sind Stiftungen und der Lehrkörper bloße Unterfunktionen politischer Macht. In der politischen Dialektik, befreit von den Grenzen des islamischen Rechts, neigen sie dazu – je nach politischer Großwetterlage – von einem Extrem ins Andere zu wechseln.
Diese sogenannte Modernität des Islam hat auch damit zu tun, dass in der Türkei und im arabischen Raum die islamische Lehre eine tiefe Krise durchgemacht hat. Woher den Islam nach Kolonialismus und Kemalismus auch nehmen? Zumeist sind die islamischen Konzepte und Rezepte aus dem modernen Gemischtwarenladen entnommen – Kopien, verschärft mit den ideologischen Speerspitzen des Westens. Ich war vor Kurzem auf einer Hochzeit eingeladen. Unter den 1.500 Gästen war ich der einzige Deutsche. Ich wurde einerseits Zeuge eines jungen hoffnungsvollen Brautpaares und eines islamischen Rituals, versteckt in einer Seitenstraße einer deutschen Großstadt. Ich wurde aber auch andererseits Zeuge von nationalistischer Dichtung, Flaggen und einer großen Isolation und Sprachlosigkeit, die auch erklärt, warum so wenige Deutsche in diesem Land zum Islam finden konnten.
Zweifellos ist die Islamische Zeitung, die übrigens von modernen Organisationen nie einen Cent erhielt, ein offener Ort für diese Unterscheidungsdebatte. Auf der Gratwanderung zwischen Esoterik und Modernismus, stellt sich in Europa die Frage nach muslimischen Innovationen und Beiträgen. Kritik am Modernismus ist notwendig, wenn sie auch bevorzugt in den Islam hinein, nicht hinausführen sollte. Das Ziel ist klar: Weder wollen die Muslime einen Islam, der auf Druck der säkularen Ideologen jede Erkennbarkeit und Formentreue verliert, noch wollen die Muslime von einer vereinheitlichten islamischen Ideologie oder einem kalten islamischen System beherrscht werden. Hie und da muss man auf der Gratwanderung auch Flagge bekennen: So ist für mich Schaikh Qaradawi wegen seiner relativierenden Haltung zu Selbstmordattentaten und seiner Naivität gegenüber der Finanztechnik als Führungsfigur in Europa ziemlich inakzeptabel. Er ist in Qatar gut aufgehoben. Ich vertraue lieber auf die schöpferische Kraft und das Wissen der europäischen Muslime.