„Wie oft lese ich einen Artikel oder höre jemanden im Fernsehen und denke: Ach, Kollege, fahr doch mal für eine Woche in ein arabisches Land oder lies mal ein Buch mit zumindest passabler wissenschaftlicher Credibility, bevor du uns hier eine Fatwa über den Islam um die Ohren schlägst. Aber dann denke ich auch: Wenn der wüsste, wie tief das Desaster wirklich reicht! Wie katastrophal etwa der Zustand der Theologie ist!… Die intellektuelle Auszehrung des orthodoxen Islams, dessen einstige Blüte und Beweglichkeit einen nur staunen machen kann –, dieser Niedergang einer hoch stehenden religiösen Kultur ist es, die den Fundamentalismus ermöglicht hat. Der Fundamentalismus ist nicht entstanden in der Orthodoxie, sondern ist eine Antwort auf die Krise der Orthodoxie. Weil die Orthodoxie keine Antworten mehr gab, hat sich in den urbanen Mittelschichten der politische Islam herausgebildet.“ Navid Kermani
Es ist interessant, dass der moderne politische Islam heute eigentlich zwei gegensätzliche Phänomene hervorbringt: blindwütiger Fanatismus und esoterisch angehauchte Popkultur (und natürlich irgendwo in der Mitte, damit sich die Extreme überhaupt bilden können, eine schweigende und gelähmte Masse). Das eigentliche Elixier des Politischen erkennt man auch in diesen Gegensätzen: die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung. Die Einen sehen sich als anerkannt an, wenn die westliche Gesellschaft sie hasst, die anderen, wenn sie geliebt werden. Das Problem: Beide ausschließlich politisch denkende Richtungen können nicht sagen, was am Islam in dieser Zeit eigentlich wirklich noch relevant ist. Nüchtern betrachtet werden beide Entwürfe ja längst durch beachtliche Integrationskraft absorbiert und werden selbst zu Wirtschaftsfaktoren.
Fest steht: Die dramatische Zerstörung der Schöpfung wird weder von Terroristen noch von Esoterikern aufgehalten. „Die Welt ist dem Menschen in die Hände gefallen“, kommentierte einst Rainer Maria Rilke. Die Machtgelüste des modernen Menschen werden in einer rasanten Pendelbewegung durch die Erfahrung der Ohnmacht abgelöst. Das Problem der modernen politischen Entwürfe und ihrer Vorstellung über die dem Menschen verfügbare Macht ist heute gerade im Westen immer wieder Thema kluger Selbstreflexionen.
Nach den verheerenden Erfahrungen der modernen Ideologien ist man verständlicherweise froh, dass auch in ernsten Lagen die Ideologen im Keller bleiben. „Lieber Schauspieler als Diktatoren“, heißt es an den sturmerprobten Orten der Politik. Lieber Einschränkung des Staates als totalitäre Machtdurchsetzung. Ja, Politik bildet Bühnen, moderiert die Spektakel, wirbt für – inzwischen kürzester Halbwertzeit unterliegende – flexible Positionen – aber welches politische Modell wäre denn besser?
Einige Jahrzehnte lang war diese eingeschränkte Erwartung an die Politik nichts anderes als Teil eingemauerter, deutscher Gemütlichkeit. Die Zeit schien still zu stehen. Ökonomisch bewunderte man staunend die Verwandlung einer Trümmerlandschaft in ein Wohlstandsparadies. Alles wäre schön geworden, wären da nicht parallel die globalen Strukturen und Parallelwelten der Finanzwelt entstanden. Heute kämpfen die Völker, die ökonomische Vorgänge zu Glaubenssätzen erhoben haben, nicht mehr wegen politischer Heilslehren, sondern um knapp werdende Ressourcen. Natürlich sind wir politisch korrekt und „gut“ geworden, aber das Gewaltpotenzial unserer globalen Wirtschaftsstrukturen, die uns gleichzeitig entglitten sind, ist seit dem 2. Weltkrieg gewaltig gestiegen.
Jetzt, wo wir uns des Treibens des entfesselten Kapitals bewusst werden, würde man die Politik gerne stärker wiederbeleben. Aber wie? Wir müssen feststellen, dass unsere Politiker, getrieben vom rauen Sturm der Globalisierung, Reagierende und weniger Agierende sind und – im Falle des Merkelschen Selbstverständnis ganz offen – sich als Moderatoren des Unausweichlichen und nicht als Entscheider, die über großartige Alternativen verfügen, verstehen.
Die zeittypische Symbiose politischer und ökonomischer Werte bringt unsere Bundeskanzlerin in der Debatte zum Libanoneinsatz der Bundeswehr, beinahe aus Versehen zur Sprache: „Wertegebundenheit ist das Gegenteil von Neutralität“. Rüstungsaufträge und Friedenseinsätze unterliegen dabei bequemerweise der gleichen Logik des Wertbegriffes.
Ob man es will oder nicht, ob man sich ins Private verschanzt oder nicht, am Horizont der Finanzmärkte erscheinen unausweichlich dunkle Wolken. Es kündigen sich Stürme an, die den Grenzüberschreitungen unserer Zeit entsprechen. Im „SPIEGEL“ liest man dieser Tage, im Stile eines Krankenberichtes, eine unaufgeregte Analyse:
„Die Abhängigkeit ausländischer Notenbanken vom Dollar wird dessen Sturz verzögern, aber nicht verhindern. Eine Schneewehe hat sich gebildet, die zur Lawine werden wird. Sie wächst in atemberaubendem Tempo. Sie kann sich morgen lösen, in ein paar Monaten oder auch erst in Jahren. Vieles, von dem die Zeitgenossen glauben, es sei unsterblich, wird eine globale Währungskrise unter sich begraben; womöglich auch die Führungsrolle der USA.“
Das ganze politische Modell wirkt angesichts der gewaltigen Finanzkrisen, die sich für vernünftig Denkende längst abzeichnen, hilflos. Wir sind es auch. Die Aufklärung, die uns politisch gemäßigt hat, steht dem Chaos, der Anarchie und der Irrationalität unserer globalen Wirtschaft hilflos gegenüber. Schlimmer noch, der Kapitalismus erlaubt uns keine nationale Gemütlichkeit mehr, entzieht sich zunehmend und ganz grundsätzlich der Sphäre des politischen Einflusses. Die technische Welt offenbart sich als unbeherrrschbare Größe. Die neuen globalen Strukturen bewegen sich dabei jenseits des gewohnten Freund-Feind Denkens und der alten, lächerlich wirkenden Verschwörungstheorien.
Jedes Spektakel braucht nicht nur eine Bühne, sondern auch das Publikum. Die Mehrheit der wahlberechtigten Bundesbürger (62 Prozent) traut laut Umfrage keiner politischen Partei die Lösung der Probleme in Deutschland zu. Am meisten erwarten die Bürger noch von der CDU/CSU: 23 Prozent glauben, die Union sei kompetent genug, die Probleme zu lösen, ergab eine Erhebung des Instituts Forsa im Auftrag des Magazins „Stern“. Nur 10 Prozent der Befragten trauen dies dem Koalitionspartner SPD zu. 17 Prozent der Befragten sagten, sie wollten an der nächsten Wahl nicht teilnehmen. Mit anderen Worten, die meisten Menschen glauben, keine Wahl mehr zu haben.
Besonders deutlich wird die politische Lage und Ohnmacht in den neuen „Demokratien“ des Ostens. Man denke nur an den „autoritären Kapitalismus“, in pseudo-demokratischem Gewand, wie wir ihn in China oder Russland erleben. Zur Tragikkomödie wird die politische Lage zur Zeit in Ungarn, dass sich offensichtlich eher der östlichen als der westlichen Ideenwelt zubewegt. Die „NZZ“ kommentiert das Geschehen wie folgt:
„Das Eingeständnis, die Sozialisten hätten die Bürger absichtlich und gezielt angelogen und hinters Licht geführt, um die Parlamentswahlen im April zu gewinnen, ist zynisch. Dem Regierungschef war also, wie sich jetzt herausstellt, von Anfang an klar, dass er nach einem Wahlsieg das Gegenteil von dem tun würde, was er verspricht. Die Sozialisten wussten genau um den Zustand der Staatsfinanzen, sie wussten, dass ohne rigorose Sparmaßnahmen dem Land der Bankrott droht. Und trotzdem versprachen sie in populistischer Manier das Blaue vom Himmel herab.“