Nichts symbolisiert besser das Ende des Kalten Krieges als der Fall der Mauer in Berlin. Europa wächst nun unaufhaltsam zusammen, in Moskau zieht McDonalds und Coca-Cola ein und das Wort “Globalisierung” wird zum wichtigsten Begriff des neuen Jahrhunderts. Im Rausch der Geschichte gibt es zunächst nur wenige kritische Stimmen. Die italienische Journalistin und Ökonomin Loretta Napoleoni sieht in dem Fall der Mauer auch eine andere, allerdings gefährliche Zeitenwende. Der Siegeszug des Kapitalismus geht zunächst insbesondere in Osteuropa einher mit neuen, unregulierten Geschäftspraktiken und endet notwendigerweise in diesen Tagen mit der Aussicht auf einen Jahrhundertcrash an den Finanzmärkten.
In den Tagen nach dem Fall der Mauer beobachtet die italienische Feministin mit Abscheu, wie in Osteuropa ein Sklavenhandel mit jungen, verzweifelten Frauen entsteht. Auch hier gelten die schlichten Marktgesetze, gilt Angebot und Nachfrage. Das damit verbundene Elend und das Schicksal dieser jungen Frauen stößt der Journalistin auf. Es sind auch diese Eindrücke, die sie in ihrem neusten Buch eindringlich beschreibt. Der Italienerin ist so mit „Die Zuhälter der Globalisierung“ ein leidenschaftliches und überzeugendes Buch über den moralischen Zerfall in der modernen Ökonomie gelungen. Napoleoni beschreibt, nach dem Fall des Kommunismus, den Übergang von Nationalstaat zum Marktstaat und darauf folgend die Auseinandersetzung zwischen Politik und „Schurkenwirtschaft“ um die Vorherrschaft.
Napoeloni definiert die “rogue economics” als einen Überbegriff für den Schwarzmarkt, kriminelle Wirtschaftstrukuren, Finanzströme der Terroristen, den Drogen- und Sklavenhandel. Alles ist erlaubt, wenn es nur irgendwie Geld bringt. Die Banken verleihen Milliardenbeträge, die in Form elektronischer Impulse um den Erdball jagen. Reale Gegenwerte gibt es dafür längst nicht mehr. Das Internet mit seinen virtuellen Spielhöllen und pornographischen Seiten ist eines der Symbole einer vernetzten Ökonomie, die verwerfliches Handeln als integrierten Bestandteil in sich trägt. Schlimmer noch, ohne den Beitrag der “rogue economic” könnte das Wirtschaftssystem gar nicht mehr bestehen.
Das eigentliche Problem aus Sicht Napoleonis: Die Politik verliert die Fähigkeit, diesen Markt zu regulieren. In der aktuellen Bankenkrise wird deutlich, wie hilflos sich die Politik den Konsequenzen dieser anarchischen Struktur gegenübersieht. Um den endgültigen Tod der Politik zu verhindern, sieht sie den ersten Schritt darin, die „durch die Schurkenwirtschaft erzeugten ökonomischen Illusionen zu durchbrechen.“ „Nur dann“, so Napoleoni weiter, „werden die Menschen in der Lage sein, ihre Wahl zu treffen und die Bedingungen ihres politischen Engagements neu festzulegen“. Die Menschen müssen also wieder “Unterscheidung” lernen , eine Eigenschaft, die so wichtig ist, wie den elementaren Unterschied zwischen “Papier” und “Gold” zu verstehen.
Eine andere – auch religiöse – Konsequenz beschäftigt Napoleoni. Kann man innerhalb dieses Systems moralisch überhaupt noch integer bleiben? Napoleoni sagt nein. In dem jetzigen Chaos, so Napoleoni, wird jeder Mensch gezwungen, ob er will oder nicht, selbst Teil der “Schurkenwirtschaft” zu werden. Die Idee der politischen Freiheit und des Humanismus selbst wird von dieser Einsicht letztendlich betroffen. Niemand kann sich in der globalen Welt der totalen Vernetzung einfach ins Private oder auf eine “moralische” Insel zurückziehen.
Was aber ist die Lösung? Hier haben führende westliche Intellektuelle von Peter Sloterdijk bis Naomi Klein einige Kopfschmerzen. Auch Napoleoni fällt es leichter, die Schattenseiten dieser modernen Lage zu beschreiben als Lösungen anzubieten. Die Idee der Reformierung der globalen Wirtschaft und seiner Regeln sieht sich einem entscheidenden Problem gegenüber: die Nationalstaaten sind zu schwach für Weltreformen und das Kapital selbst bestimmt zunehmend die politische Willensbildung. Ehemals mafiöse Strukturen legalisieren sich heute, Geheimdienststrukturen werden offener Teil autoritärer Staaten und so selbst Teil des globalen Systems.
Inzwischen wird die Lage auf den Weltmärkten zunehmend dramatisch. Weltweit wird eine Depression wie 1929 befürchtet, in den USA und Europa wird jahrelanges Nullwachstum erwartet. Aber auch eine andere Folge nach dem Fall der Berliner Mauer ist überraschend; die ökonomische Macht wandert ostwärts und Russland könnte mit Hilfe seines Energiereichtums schlussendlich der eigentliche Gewinner des kalten Krieges werden. Der geopolitische Kampf um die Sicherheit von Pipelines hat in seiner Bedeutung den Kampf gegen vereinzelte Terroristen längst abgelöst.
Napoleoni hatte als Fachfrau für “Terrorismusfragen” bisher den Islam nur als moderne Ideologie, der sich gegen die Globalisierung stellt, verstanden. Alle Terroristen, so stellte Napoleoni ganz allgemein fest, sind auch gute Kapitalisten und organisieren ihre wirtschaftliche Aktivitäten legal innerhalb der internationalen Finanzarchitektur. Auch der radikalste politische Gegenspieler der Finanzwelt bleibt, ökonomisch gesehen, integriert. In ihrem neuen Buch entdeckt sie aber auch eine andere faszinierende Seite des Islam. Das islamische Recht, das zwar Eigentum anerkennt, aber der Ökonomie bestimmte Grenzen zieht, könnte der letzte Gegenspieler des entfesselten Kapitalismus sein. Die Muslime und ihre Goldwirtschaft, die Zakat, die moralische Verdammung von Drogen und Prostitution, all diese Aspekte – nach dem augenscheinlichen Ende des Terrorismus – interessieren heute die Intelligenz Europas. Napoleoni widmet diesen Aspekten und einem so neuartigen wie intelligenten Dialog mit dem Islam viele Seiten in ihrem neuen Buch.
Napoleoni scheint selbst dabei ein wenig überrascht, dass der Islam eine überraschende Alternative bietet. So schreibt sie: „Vor allem aber stellt das islamische Finanzsystem die einzige wirtschaftliche Kraft dar, die der Schurkenwirtschaft konzeptionell etwas entgegensetzt. Investitionen in Pornographie, Prostitution, Drogen, Tabak und Glücksspiel sind verboten. Wie schon gesagt wurde, gedeihen diese Bereiche seit dem Fall der Berliner Mauer unter dem gleichgültigen Blick des Marktstaates prächtig“.
Loretta Napoleoni eröffnet nach dem Ende des Terrorismus einen intelligenten Dialog mit dem Islam.