Martin Mosebach ist nicht nur einer der erfolgreichsten deutschen Gegenwartsschriftsteller, sondern auch echter Frankfurter. Seit 1980 lebt er in der Bankenstadt und schreibt immer wieder gerne über den kreativen Gegensatz seiner Verortung. „Es gehört zu meinem besonderen Verhältnis zu meiner Geburtsstadt Frankfurt am Main“, so Mosebach, „dass ich sie als eine der verdorbensten und hässlichsten Städte Deutschlands erlebe und in meiner Phantasie und in meinem inneren Bild von der Stadt an sie als eine der schönsten Städte denke, die ich kenne“.
Im Juni 2013 erhielt der Autor in Weimar den wichtigen Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. Das passt, denn Martin Mosebach hält den wohl berühmtesten Frankfurter – Goethe – mit seinem Wortschatz von 90.000 Worten für den zeitlosen Orientierungspunkt deutscher Sprachkunst. In einem Interview am Rande der Verleihung klärte er über seinen Umgang mit dem Schreiben weiter auf. Seine Stoffe, sagt der Schriftsteller, „fallen ihm gewissermaßen vor die Füße“. Er beschreibe am liebsten die Orte, Stimmungen und Atmosphären, die er am besten kennt.
Kein Wunder also, dass auch sein neuester Roman Das Blutbuchenfest wieder einmal in der Stadt am Main spielt. Überraschender als dieser Umstand ist aber sein eigentliches Thema: 20 Jahre nach der Belagerung Sarajevos erinnert Mosebach an eine der Tragödien der jüngsten europäischer Geschichte. Ein Bürgerkrieg, der, nur wenige hundert Kilometer von seiner Stadt entfernt, so nachhaltige wie brutale Wunden in ein multikulturelles Gemeinwesen schlug.
Um die Philosophie des Autors besser kennenzulernen, lohnt sich zunächst die Lektüre der 2011 erschienenen Sammlung Als das Reisen noch geholfen hat. Der Essayist erzählt dort von Büchern und Orten, die einen Einfluss auf sein Denken hatten. Es geht in seinen brillanten Essays um Gott und die Welt, die Freiheit als innere, persönliche Eigenschaft, die Frage nach der deutschen Kultur und in einer erschreckend real wirkenden Schilderung auch um die Belagerung Sarajevos im November 1994. Offensichtlich beeindruckt vom Schicksal der dortigen einfachen Menschen, den Einschüssen auf den Plätzen und Friedhöfen am ehemaligen Olympiastadion, gehört diese Abhandlung zweifellos in das Logbuch großer Literatur, die emotionslos beschreibt, was in Europa zu dieser Zeit eben alles möglich war.
In seinem neuesten Buch, nimmt Martin Mosebach diesen roten Faden erneut auf und bereitet das Spannungsfeld zwischen dem launischen Leben im Schatten der Bankentürme und einer Parallelwelt, dem im Vergleich mit der Glitzermetropole archaisch wirkenden Leben im bäuerlichen Bosnien, neu auf. Auf der einen Seite der Luxus, die Oberflächlichkeit und das Beziehungsgeflecht einer deutschen Großstadt, auf der anderen Menschen, die in ihrem ländlich anmutenden Raum – ob sie wollen oder nicht – in einen furchtbaren Krieg hineingezogen werden.
„Vielleicht liegt der eigentliche Gewinn des Älterwerdens darin, dass frühere Erinnerungsbilder in der Rückschau erst an ihren richtigen Platz rücken. Ihre Bedeutung wird ihnen Jahrzehnte später nachgeliefert.“
Dem Autor geht es dabei nicht um eine historische Einordnung, schon gar nicht um Schuldfragen; seine Romanfiguren begegnen sich nicht etwa auf einer politischen Ebene, noch arbeiten sie überhaupt die Vorkommnisse des Balkans gemeinsam auf. Das Beziehungsgeflecht ist eher zufälliger Natur: Irvana, eine Kroatin, ist als einfache Putzfrau in beiden Welten unterwegs, arbeitet bei den Frankfurter Charakteren des Romans und versucht, Ordnung in das häusliche Chaos zu bringen. Sie schaut so hinter die Kulissen des bürgerlichen Lebens, wird eher ungewollt Zeugin von Alltagsdramen, Liebschaften und Ehebruch. Und, während die exklusive Frankfurter Gemeinde ein maßloses Fest unter einer Blutbuche feiert, dient Irvana als Servierkraft und telefoniert gleichzeitig dank Handy mit ihrer Familie, die existentiell vom Ausbruch des Krieges bedroht ist.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Martin Mosebach ansonsten wohlgesonnen ist, sieht gerade in dieser Szene einen ernsten Widerspruch und Grund für einen eher merkwürdig anmutenden „Realismusstreit“. Handys, so stellt das FAZ-Feuilleton leicht neunmalklug fest, gab es ja damals in den frühen 1990er Jahre nicht. Die vorgespielte Gleichzeitigkeit der Erfahrungen sei also eine reine Fiktion, „groteske erzählerische Willkür“ und damit eine gänzlich unrealistische Erfindung des Autors.
Der Autor dürfte diese Attacke auf seine schriftstellerische Freiheit mit einem Lächeln kommentieren. Hier geht es um mehr: Natürlich entgeht dem aufmerksamen Leser diese Anspielung auf die aus dem Rahmen gefallene Historizität des Geschehens nicht. Der Einfall aus der Feder Mosebachs ist aber nicht unpassend, erinnert er uns vielmehr an die fragwürdige Rolle der Kommunikationstechnik; heute verfeinert durch das Internet. Sie hat uns bei aller Magie nicht entscheidend geholfen, die komplizierten Geschehnisse vor unserer Tür richtig einzuordnen oder gar wirklich mitzuerleben.
Wir sind zwar fortlaufend online und werden mit Informationen zugeschüttet, können sie aber – zumindest, wenn wir keine Ideologen sind – nur mühsam richtig einordnen. Per Mausklick beherrscht es inzwischen jeder, quasi als Aktionskünstler, seine Welt und seine Perspektiven zusammenzustellen. Literatur hat hier nicht die Aufgabe, unterschiedliche Meinungen über den Verlauf der Dinge zu schüren, sondern – wie Botho Strauss wohl zustimmen würde – sich auf die Phänomene dahinter zu konzentrieren. Was heißen für uns heute noch Wahrheit, Tod, Krieg und Mitgefühl?
Das Blutbuchenfest passt insofern in aktuelle Debatten; zumindest, wenn man die Frage zulässt, ob wir – bei aller Feierlaune – nicht jederzeit als Schlafwandler in neue Kriege in unserer unmittelbaren Nachbarschaft hineingezogen werden können. Das aktuelle Geschehen in der Ukraine zeigt eindrücklich, warum die Balkankriege in keiner Weise an Aktualität verloren haben. Unser Sicht auf Dinge, unsere Techniken zur Wahrheitsfindung und unser Urteilsvermögen überhaupt müssen angesichts neuer Prüfungen dringend geschult werden. Wir müssen auch, so liest man im Roman, „das Befremden über andere Daseinsformen überwinden lernen“. Dazu braucht es eine gemeinsame Sprache.
Natürlich stellt sich auch im neuen Roman Mosebachs, im Angesicht der Katastrophe, die Frage nach konkreten Interventionsmöglichkeiten der „Frankfurter“ Gesellschaft. Wereschnikow, eine zentrale Figur im Frankfurt des Autors, möchte zum Beispiel einen überpolitischen Kongress organisieren, über europäische „Basiswerte“ diskutieren und mit einer Debatte über einen bosnischen Bildhauer die „Kultur“ als völkerverbindendes Instrument einsetzen. „Keine Politik, bloß keine Politik“, ist das etwas hilflos klingende Credo des Kulturpolitikers. Das ganze Projekt erinnert aber eher an eine Posse und scheitert ironischerweise an profanen Finanzierungsfragen.
So bleibt am Ende doch nur die Rolle des passiven Zuschauers. Der Ich-Erzähler des Romans, ein gescheiterter Kunsthistoriker, reist immerhin im Auftrag Wereschnikows nach Bosnien und beobachtet dort gebannt das bäuerliche Leben der Familie Irvanas. Dort leben keine besseren Menschen als in Frankfurt. Sie scheinen aber näher an den existentiellen Grundfragen zu sein; auch dem großen und kleinen Unglück, in das sie wie von Geisterhand hineingezogen werden.
Irvana muss dort nicht nur den tragischen Tod ihres Kindes, sondern auch die Bedrohung ihrer Landsleute hinnehmen. Die Kroatin reagiert dabei auf die Herausforderungen des Lebens ohne eine ausgeklügelte Werttheorie und hat auch keine kulturelle Botschaft. Sie ist auch nicht wirklich politisch, aber meistert immerhin ihr Schicksal mit ernster Würde. Das Lebensgefühl des Beobachters aus dem Westen wird dagegen schon durch das bloße Zuschauen erschüttert.
Nach der Rückkehr des Erzählers wird auch dieser mit dem Tod konfrontiert. Winnie, seine etwas schrille Geliebte, stirbt plötzlich auf einem Empfang. Dieses Unglück wird bei Martin Mosebach zu einem ironisiert beschriebenen Betriebsunfall, der von den Stützen der Gesellschaft eher versteckt als erfahren wird und so in das allgemeine Kulturgeschehen ohne großes Aufheben integriert wird. Die Verdrängung des Todes und der Endlichkeit, die den Mangel an Authentizität erklären, bleibt eine wichtige Symbolik in Mosebachs Werk.
Schon 2001 hatte der Schriftsteller im Nebelfürsten das Phänomen des Zuschauens problematisiert. „Heute, im Jahre 1900, können wir sagen, dass die Epoche europäischer Kriege endgültig zu Ende ist“, sagt Lerner, die historische Zentralfigur und kündigt eine „Zukunft des Zusehens an“. Tagträume sind aber, so spüren wir bei der Lektüre des von Das Blutbuchenfest und spätestens beim Blick aus dem Fenster, wo wir möglichen ethnischen Kriegen auf der Krim entgegen sehen, oder aber bei der Beobachtung wütender Jugendlicher in Bosnien verweilen können, sind gefährlich. Wenn der Autor die gesellschaftliche Lage in Bosnien mit einem „Rosinenkuchen“ vergleicht, „in jeder Scheibe gleichmäßig von Rosinen und Zitronat durchsetzt“, dann meint er nicht nur den Balkan.
Martin Mosebach, der sich als Katholik, Schriftsteller und Reisender nie scheute, andere Formen des Daseins zu erforschen, ist mit diesem Forscherdrang ein Vorbild und weiß Gott kein Vertreter von antiquiertem Lagerdenken. In Bosnien lebten die Menschen lange Zeit, zu lange, aneinander vorbei. „Das Beste, was Katholiken, Orthodoxe und Muslime besaßen, die sinnliche Ausprägung ihrer jeweiligen Religion, blieb den anderen Volksgruppen auf eine grundsätzlichere Weise verborgen, als wenn man es in ein undurchdringliches Geheimnis gehüllt hätte“, stellt er beinahe lapidar über die Gräben des Alltags fest. Das Geheimnis des Lebens ist für den, der sich diesem Thema in unruhiger Zeit nähern will, im Werk von Martin Mosebach immer gut aufgehoben.