Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte Ihnen heute eine kleine Meditation über die Lage des politisch denkenden Menschen anbieten. In den letzten Jahrzehnten – so sagt man – sei das Politische beinahe verschwunden und sogar das Primat des Politischen bedroht. Die Ökonomie sei dagegen das eigentliche Schicksal. Gleichzeitig erleben wir in diesen Tagen immer wieder politische Kämpfe höchster Intensität. Die Frage liegt also nahe: Kehrt das Politische zurück und wie stehen wir Muslime dazu?
«Throne bersten, Reiche zittern», hieß es bereits in Goethes West-östlichem Diwan. Die Zustandsbeschreibung passt auch in unsere Zeit, erinnert uns zum Beispiel an den Nahen Osten, wo in diesen Monaten eine neue geopolitische Ordnung – oder sagen wir besser Unordnung – zu entstehen scheint.
Staaten wie der Irak, Libyen oder Syrien stehen vor ihrem endgültigen Zerfall und sind durch ihre furchtbaren Bürgerkriege explosiv geworden. Neue Formen der irregulär kämpfenden «Guerilla» stoßen in die Freiräume, die die untergehenden Staaten hinterlassen, vor. Aber auch in Europa gibt es Unruhe. In der Ukraine könnte Europa sogar – im schlimmsten Fall – in einen Krieg «schlafwandeln».
Soweit in den Auseinandersetzungen die Rolle der Muslime beschrieben wird, ist die Sicht des Feuilleton auf uns bisher eher simplizistisch: Der «böse» Muslim will die Moderne total zerstören, der «gute» Muslim ordnet sich ihr total unter. Das heißt, in beiden Fällen ist der eigentliche, konstruktive Beitrag der Muslime nicht erkennbar. Das Bild archaischer Gewalttäter versichert dem Westen gleichzeitig – mit einiger Selbstgefälligkeit –, dass «wir so gut sind, weil sie so böse sind». Im Falle der furchtbaren IS-Truppen im Irak hat der junge englische Imam, Schaikh Habib Bewley, den Kontext aus muslimischer Sicht bereits brillant eingeordnet und unserer absoluten Ablehnung eine klare Grundlage gegeben.
Ich will hier nur eine Anekdote beitragen: Ich war vor einigen Jahren zu einem Seminar über den Islam in Europa, in in einem Tal in Mazedonien eingeladen. In einer der Pausen hat mich eine kleine Delegation von Christen, die aus einem christlich geprägten Bergdorf aus der unmittelbaren Umgebung stammten, zu einem Kaffee eingeladen. Dort angekommen überraschte mich nicht nur ein wunderbarer Ausblick, sondern auch ein kleines Museum über die Geschichte des Dorfes. Beim Kaffee fragte ich die Anwesenden, wie das Dorf in der Zeit der Osmanen seine Integrität wahren konnte. Die Antwort war einfach. «Den Osmanen», lernte ich «war der Aufstieg zu anstrengend gewesen». Man habe sich dem lokalen Sultan im Tal einmal im Jahr zeigen müssen und ansonsten unberührt weitergelebt. Dieses Miteinandersein ist heute, wie wir es mit dem totalitären Raumkonzept «moderner Islamisten» demonstriert bekommen, an vielen Orten längst unmöglich geworden.
Wo stehen wir aber heute wirklich?
Ich möchte hier – sozusagen zur Einstimmung – an die berühmte Geschichte Rumi’s über die Lage der Ameise auf dem kompliziert verwobenen Teppich erinnern. Der Sinn einer Situation, so lehrt uns Rumi, ergibt sich nur aus einem gewissen Abstand zur Lage und natürlich in der Erinnerung an den Schöpfer.
Zunächst sollten wir den Blickwinkel, den uns die Eilmedien heute aufzwingen, kritisch hinterfragen. Es gibt gute Gründe, den Abstand zu den Ereignissen zu wahren; gerade auch, weil es heute im Zeitalter der «sozialen Medien» und der Produktion alltäglicher «Breaking News» relativ schwierig geworden, den Wahrheitsgehalt von Nachrichten überhaupt zu prüfen. Die Folge der alltäglichen Informationsüberflutung, die – wie es Jean Christophe Rufin begreift – einer Zensur gleichkommt, ist die denkfeindliche Herrschaft einer «radikalen Subjektivität». Viele Medienkonsumenten sind dabei von dem Glauben an «ihre» Wirklichkeit absolut überzeugt; eine Wirklichkeit, die sie alltäglich per Mausklick aus dem vorliegenden Angebot zusammensetzen.
Erinnern wir uns, bevor wir mit unserer Beurteilung über die Weltlage fortfahren, an an ein Bonmot von Paul Valery aus den Cahiers: «Die Ereignisse sind der Schaum der Dinge, wenn die Brecher über sie hinweggehen. Das Wichtigste ist das am wenigsten Sichtbare. Das Ereignis kommt hoch, erscheint, blendet, verblüfft – und verrauscht. Man muss sorgfältig darauf achten, woran es nichts ändert. Das muss näher betrachtet werden.»
Bevor wir uns also wieder den «Breaking News» dieser Tage zuwenden, müssen wir, um den Überblick zu wahren, immer wieder innehalten. Zur Einschätzung der politischen Lage gehören eben nicht nur die Momentaufnahmen des hier und jetzt. Es geht darum, unser Verhältnis zur Politik an sich und – das heißt, insbesondere in der Moderne – zum Staat neu zu denken. In diesem politischen Feld der staatlichen Einrichtungen gilt, wie wir feststellen werden, durchaus der Heraklitische Satz «alles fließt».
Schon Ibn Khaldun hat darüber in seiner Muqqadima nachgedacht: «Wisse, dass der Staat durch verschiedenen Stadien und Eigenschaften hindurchgeht. Die, die in ihm leben, erwerben in jeder Phase aus den Verhältnissen dieser Phase Charaktereigenschaften, die anders sind als in den anderen Phasen, denn der Charakter folgt natürlicherweise dem Gepräge der Situation, in der er sich befindet.»
Wir können die «Breaking News» also nur wirklich verstehen und sinnvoll einordnen, wenn wir die heute verbreitete Geschichtslosigkeit überwinden. Wir müssen uns bewusst werden, dass nicht nur jedes geschichtliches Ereignis, jede Krise, eine Geschichte, hat, sondern auch die angewandte Terminologie, um sie einzuordnen.
Hier erklärt der deutsche Jurist Carl Schmitt (in seiner Politischen Theologie) etwas sehr Grundsätzliches: «Alle Begriffe der Staatslehre sind säkularisierte, theologische Begriffe.»
Den Staat, zum Beispiel, nennt Hobbes in seinem Leviathan, so folgerichtig wie paradox, einen «sterblichen Gott». Ihm, dem allmächtigen Staat, wird seit Jahrhunderten die Macht zugeordnet. Dieser «sterbliche Gott» ist bis heute die politische Organisationsform, dem wir als Bürger untergeordnet sind. Dadurch wird auch unser politisches Denken, dem Grunde nach einem Zirkelschluss folgend, zutiefst bestimmt.
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu geht in seinen Vorlesungen Über den Staat auf diese Problematik ein: «Je weiter ich in meiner Arbeit über den Staat vorankomme, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass die besondere Schwierigkeit, dieses Objekt zu denken, darin liegt, dass es – ich wäge meine Worte – beinahe undenkbar ist. Wenn es so einfach scheint, über diesen Gegenstand einfache Dinge zu sagen, so liegt es daran, daß wir von dem, was wir untersuchen wollen, in gewisser Weise schon durchdrungen sind.»
Darüer hinaus weist auch Bourdieu auf die theologische Dimension des Denkens über den Staat hin: «Achtung, alle Sätze die den Staat als Subjekt haben, sind theologische Sätze – was nicht heißt, dass sie falsch wären, insofern der Staat eine theologische Entität ist, das heißt eine Entität, die durch den Glauben existiert.»
Das heißt, wen wir Bourdieu folgen, dass wir uns mit unserer Vorstellung über den Staat auch selbst mit definieren. Diese Einsicht ist dem politischen Islam übrigens bisher völlig fremd geblieben, will er doch gerade blindlings den Staat erobern, weil er dort die absolute Macht wähnt.
Ich möchte kurz am Beispiel von drei weiteren Denkern darstellen, warum wir als europäische Muslime, aus unserer eigenen Denktradition heraus, zu diesem Thema eigenes Wissen und Erfahrung beitragen können. Ganz generell geht es mir dabei darum, die Beiträge dieser Denker auf das Verhältnis des Menschen zur Macht, zum Staat, zur Technik herauszustreichen. Für uns Muslime ist eine Beschäftigung mit diesem Denken unverzichtbar.
1. Für Goethe, selbst ein bedeutender Denker des Politischen, ist die Finanztechnik der dynamische Geburtshelfer des modernen Staates. In seinem Faust beschreibt Goethe die systematische Bedeutung neuer Finanztechniken, insbesondere die Schaffung des Papiergeldes, die der Politik ganz neue Spielräume eröffnet. Goethe ahnt, dass die neuen Räume die entstehen und unterworfen werden müssen, das ursprüngliche menschliche Maß gefährden.
2. Nach dem Wahnsinn der nationalen Ideologie und seinem Streben nach Großräumen, ist dem späten Heidegger das handelnde Subjekt, sei es das «Ich» oder der «Staat» fragwürdig geworden. Die Ideologien haben sich für Heidegger in ihrem Verhältnis zur Welt als gleichartig gezeigt. Die neuen Techniken der Macht, so der Philosoph, habe nicht der Mensch in der Hand, sondern das Gegenteil sei eingetroffen, die Technik beherrsche nunmehr den Menschen. Hierbei geht es nicht nur darum, die Technik, die die Schöpfung gefährdet, durch eine Andere zu ersetzen. Vielmehr, so beschreibt es Günther Anders «ist es durchaus denkbar, dass die Gefahr, die uns droht, nicht in der schlechten Verwendung von Technik besteht, sondern im Wesen der Technik als solcher angelegt ist».
3. Für den Heidegger-Schüler Byung-Chul Han, der im Moment in Berlin lehrt, ist der neue Weltbürger schließlich nicht etwa frei, sondern inzwischen durch einen neuen digitalen Totalitarismus, den Dataismus, bestimmt. Hier wird eine neue Technik der Macht befähigt jeden Widerstand zu integrieren. Die alte Idee der geographischen Verortung von Macht ist ebenso unmöglich geworden. Im Gegensatz zum totalen Staat, in der Vorstellung eines Orwell, beruht der neue Totalitarismus dabei auf Freiwilligkeit. In seinem Essay Psychopolitik schreibt Han: «Big Data soll das Wissen von der subjektiven Willkür befreien. Demnach stellt die Intuition keine höhere Form von Wissen dar. Sie ist vielmehr etwas bloß Subjektives, ein Notbehelf, der den Mangel an objektiven Daten ausgleicht. In einer komplexen Situation ist sie, so das Argument, blind. Selbst die Theorie gerät in den Verdacht einer Ideologie. Wenn genug Daten vorhanden sind, so ist sie überflüssig. Die Zweite Aufklärung ist die Zeit des rein datengetriebenen Wissens.»
Im Ergebnis hat das europäische Denken die Verwandlung des Staates als politische Form, unter den Rahmenbedingungen des Siegeszuges globaler Technik immer wieder neu durchdacht. Der ursprüngliche Sinn des Staates, innerhalb bestimmter Grenzen Sicherheit und Wohlstand zu stiften, diese Funktion wird uns heute in den globalen Verhältnissen fragwürdig.
Ohne die aktuelle Bedeutung des Staates und die Krise seines weltweiten Ordnungsmodells zu hinterfragen, können wir auch die Ereignisse in «Gaza, Syrien, Ukraine» kaum richtig einordnen.
Hier sei zunächst eine weitere Vorbemerkung erlaubt: Wir sind im Erleben der «Breaking News» wohl deswegen so erschüttert, weil hier Geschichte kaum noch «Sinn» zu produzieren vermag. Es wird – so scheint uns – umsonst gestorben. Wir sind als Menschen alarmiert, weil hier die Macht oft nur noch als blanker, maskierter Terror erscheint. Der Staatsbegriff, der Staat als konkrete Ordnung, zeigt sich in allen genannten Fällen auf je eigene Weise in der Auflösung und in seiner ganzen Abgründigkeit.
Ich möchte nun – anhand dieser drei verstörenden Krisensituationen – , einige nihilistische Elemente, der dort zu erlebenden, alltäglichen «Politik» ansprechen. Nicht gerade zufällig finden sich auch in allen Krisengebieten – ganz egal wer, und hinter welcher Maske, kämpft – einige Gemeinsamkeiten. Hier seien wenigstens die Stichpunkte kurz genannt:
Permanentes Ausnahmerecht. Ende der Verhältnismäßigkeit. Das Problem der unmöglich gewordenen Unterscheidung von Freund – Feind, damit das Ende der Unterscheidung als eigentliche, sinnstiftende Essenz des Politischen. Das Problem der irregulär kämpfenden «Guerilla». Das Ende der Idee des souveränen Staates, der von innen und außen in den «Großraum» gedrängt wird.
Die Frage, der wir uns nach diesen Reflexionen letztlich stellen müssen: Erleben wir heute also tatsächlich die «Rückkehr des Politischen» oder eher ein Endspiel des Nihilismus?
Wir beantworten diese Frage, ob das «Politische» zurückkehrt, zweifellos mit nein; zumindest dann, wenn wir als Ziel von Politik nicht nur die Verbreitung von Terror, sondern die Absicht verstehen, eine gerechte Ordnung, eine konkrete Moral oder eine souveräne Macht zu etablieren. Für eine Rückkehr des Politischen im eigentlichen Sinn fehlt letztlich allen beteiligten Akteuren die Idee eines neuen Nomos und eine Basis, ein Subjekt, dass in der Lage wäre eine neue Art der konstruktiven und gerechten Politik jenseits des untergehenden Staates zu schaffen. Das ist die Not, der sich auch Europa stellen muss.
Als Muslime dürfen wir heute weder unsere Vision aus den Augen lassen, noch unser fundamentales, offenbartes Wissen über den Zusammenhang von Macht- und Ohnmacht leugnen. Das Subjekt von Macht ist in einer Lehre der Einheit weder der Staat, noch das Individuum. Es muss uns um eine Politik gehen, die gerade keine Ideologie oder dumpfe Machtpolitik ist.
Von fundamentaler Bedeutung ist hierbei der Schutz unserer eigenen Terminologie, die Möglichkeit der korrekten Benennung. So ist zum Beispiel die Bezeichnung des türkischen Präsidenten als neuen «Sultan» etwa so sinnvoll wie die Definition der EU als neues «Römisches Reich». Im Kern muss es den Muslimen darum gehen, neben der unmittelbaren Verpflichtung der Etablierung der Zakat, den Islam als einen Nomos zu begreifen, der freien Menschen seine ökonomische und soziale Einrichtungen anbietet. Es passt dabei in das Bild, dass der verbreitete «Staatsislam» kein Verhältnis mehr zu diesen originären Beiträgen, vom freien Markt bis zu den Stiftungen, hat.