Wer sich eine Auszeit von den trostlos politisierten Debatten rund um den Islam nehmen will, findet dazu eine anregende Gelegenheit zur Erholung in dem neuen Buch von Mathias Enard, „Kompass“.
Der Autor erinnert darin an die jahrhundertelange Tradition der Annäherungen zwischen Ost und West („l’orient c’est nous!“). Während der politische Diskurs um die Muslime zunehmend von Gegensätzen bestimmt ist und zu der Konstruktion von unbeweglichen, in Beton gegossenen Identitäten zu führen scheint, sind es die „Orientalisten“, nicht zuletzt Deutsche, die sich von jeher nach fließenden Identitäten und kultureller Einheit sehnen.
Der Leser begleitet den Musikwissenschaftler Franz Ritter, der, nach einer niederschmetternden medizinischen Diagnose, eine Nacht lang wach liegt. Ein Leben lang beschäftigte sich Ritter mit der Welt der Anderen, mit Musik und Literatur, nicht zuletzt inspiriert von der Liebe seines Lebens, Sarah, einer Literaturwissenschaftlerin. Ihre gemeinsamen Reisen führten sie zu Intellektuellen der islamischen Welt – nach Damaskus, Istanbul und Teheran.
Ritter ist berührt vom Schicksal der Pioniere eines ungewöhnlichen Austausches, wie dem Korrespondenten Leopold Weiss, der mit muslimischen Namen Muhammad Assad heißt. Unter einem Baum in Tübingen – so erinnert sich Ritter bewegt – las er einst über die Quintessenz allen Reisens, die Muhammad Assad darin sah, herauszufinden, was der Sinn des Gebetsrufes sei.
Ritter leidet an seiner inneren Zerrissenheit: „Man kann sagen, dass mein spirituelles Leben dasselbe Desaster gewesen ist wie mein Gefühlsleben.“ Es ist die Demut des Nomadenlebens, die Ritter am Islam anzieht und die er an Sarah bewundert; die rastlose Reisende, die er in all den Jahren nur kurz trifft, aber sich stets nach ihr sehnt und an der Unvollkommenheit und Sprachlosigkeit ihrer Liebe verzweifelt.
Es ist eine faszinierende Sammlung von Anekdoten, Geschichten und Charakteren, mit der Mathias Enard diesem zeitlosen Thema neues Leben einhaucht. Dabei ignoriert er nicht das Auf und Ab der historischen Begegnungen, die sich gerade in den wechselnden Motivationen der Orientalisten zeigte: „Archäologen wurden zu Spionen, die Sprachwissenschaftler zu Goldschmieden der Propaganda, die Ethnologen zu Sträflingsaufsehern.“
Es wird aber dem Leser dieses wunderbaren Buches klar: Die Suche nach dem Orient ist für den Europäer bis heute nichts anderes als die Frage nach der eigenen Gestalt. Hierzu braucht es den Kompass. Die Schwerkraft der Gewalt und die Mentalität der Verrohung drohen, diese feine Ausrichtungen, die die Wechselwirkungen unser geistiges Leben letztlich ausmachen, zu zerstören.