Universales Recht: Die Krisen unserer Zeit bedeuten eine Rückkehr der Politik und der Frage nach verbindlichen Regeln.
(iz). „Es ist die Ökonomie, Dummkopf!“, mit diesem Wahlkampfslogan gewann der Bill Clinton die US-Präsidentschaftswahlen in den 90er Jahren. Nach dem Fall des Kommunismus schien die Geschichte nur noch aus einem globalen Wettbewerb zwischen kapitalistischen Systemen zu bestehen. (Foto: Lightspruch, Adobe Stock)
Wie wir heute wissen, ist das Ende der Historie nicht eingetreten. Die Krisen unserer Tage bezeugen die Rückkehr des Politischen. Die Probleme rund um die Phänomene Flüchtlinge, Umwelt und der Ukrainekrieg zwingen die westlichen Regierungen, schmerzliche Entscheidungen zu treffen, die gerade nicht im Interesse ihrer ökonomischen Macht stehen.
Parallel kehren die alten Fragen nach den ethischen Grundlagen staatlichen Handelns zurück. Erleben wir eine Renaissance des universellen Rechts oder der Beginn eines neuen Nationalismus? Zahlreiche Debatten drehen sich heute um moralische Herausforderungen, dem Widerspruch zwischen Wertepolitik und nationalen Interessen.
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Universales Recht oder welche Regeln sollen gelten?
Im Jahr 1887 veröffentlichte Friedrich Nietzsche eine kleine Auflage eines inzwischen legendären Buches: „Die Genealogie der Moral“. In einer Welt ohne Gott, so der Philosoph, stellen sich die moralischen Fragen, die Entstehung und Entwicklung von ethischen Überzeugungen, insbesondere von Gut und Böse, neu.
Er versucht, die Ursprünge dieser Konzepte aufzudecken und argumentiert, dass sittliche Vorstellungen aus Machtverhältnissen, sozialen Strukturen und historischen Umständen heraus entstanden sind.
Nietzsche behauptete, dass Moralsysteme oft von den Starken und Mächtigen geschaffen wurden, um ihre Macht zu legitimieren und die Schwachen zu unterdrücken. Nach diesem Urteil ist jede Wahrheit subjektiv und die absolute Bindungskraft der alten Glaubenslehren hinfällig.
Der Ethiker Hanno Sauer bringt die neue Lage in seinem aktuellen Sachbuch „Moral – die Erfindung von gut und böse“ auf den Punkt. Seine Überzeugung: Nach Nietzsche kann die Moral kein göttlich inspirierter oder sonst wie a priori bekannter Normenkatalog mehr sein.
Die Begründung ethischer Grundsätze finden sich nicht nur in der Vernunft. Eine fundierte Geschichte, so Sauer, verlässt sich auf die neuesten Erkenntnisse aus Evolutionstheorie, Moralpsychologie und Anthropologie.
Er erklärt die Entstehungsgeschichte moralischer Verantwortung im Westen, von Zeitgenossen die er als „weird“ bezeichnet und die für die bis heute in der westlichen Welt ausgeprägte Tendenz zum Universalismus stehen.
Er schreibt: „Seltsame Menschen sind zwar vergleichsweise weniger loyal gegenüber Familie und Gemeinschaft, verhalten sich aber dafür aber Fremden gegenüber altruistischer und kooperativer als im globalen Durchschnitt.“
Im Grunde hofft Sauer darauf, dass die kulturelle Evolution der Weltbevölkerung auch ohne Rückbezüge auf die Religion auf ein positives Ende zusteuert.
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„Der Doppelstaat“: zum Beitrag von Ernst Fraenkel
Dass es nicht so kommen muss, wissen die Deutschen seit den Erfahrungen mit den Nationalsozialisten. In diesem Kontext lohnt die Lektüre eines der wichtigsten Bücher über die moralische Bewertung der NS-Zeit mit dem Titel „Der Doppelstaat“.
Die Urfassung des Textes, die einzige innerhalb Deutschlands während der Diktatur ausgearbeitete umfassende kritische Analyse, schrieb der Jurist Ernst Fraenkel in den Jahren 1933-1938.
Der Mut des deutschen Juden, ein Rechtsanwalt, der bis zu seiner Ausreise zahlreiche Mitbürger gegen das NS-Regime verteidigte, beeindruckt. Das Werk beschreibt die Umkehrung aller Werte, die Rechtsstaaten bis zur Errichtung der Diktatur auszeichneten.
Die staatlichen Strukturen der Nationalsozialisten, zeichnet, aus seiner Sicht, eine Mischung aus Maßnahme- und Normenstaat aus. Ob im Einzelfall Entscheidungen nicht im Sinne des Gesetzes, sondern nach der Lage der Sache erfolgt, entschieden die Träger der Gewalt souverän. Ihre Souveränität bestand darin, dass sie über den dauernden Ausnahmezustand verfügen.
Nur wenn der Maßnahmestaat die Zuständigkeit nicht an sich zieht, herrschen Normen. Der Weiterbestand von Gesetzen war für die Machthaber wichtig, um wirtschaftliche Prozesse berechenbar zu halten.
Obwohl der Maßnahmenstaat den Apparat besitzt und über die Handhabe verfügt, in den Wirtschaftsprozess einzugreifen, wann und wo es ihm beliebt, sind so die rechtlichen Fundamente der kapitalistischen Wirtschaftsordnung erhalten geblieben. In schockierenden Details zeigt Fraenkel die Verfolgung und Ausgrenzung von Minderheiten aus dem zivilen Leben auf.
Die völlige Unterwerfung der Juden unter die Herrschaft des Maßnahmenstaates, so der Jurist abschließend, wurde in dem Augenblick vollzogen, in dem ihre Ausmerzung aus dem Wirtschaftsleben beschlossen wurde.
Der NS-Jurist Alfred Rosenberg stand mit seiner Propaganda stellvertretend für die Auflösung überlieferter Begriffe von Gut und Böse. Im Jahr 1934 behauptet er zynisch: „Recht und Unrecht gehen nicht umher und sagen: das sind wir. Recht ist das, was arische Männer für Recht befinden.“ Fraenkel erklärt eindrucksvoll den Bruch der NS-Juristen mit den Traditionen des Naturrechts, der Religion und der Philosophie Kants.
„Der Nationalsozialismus geht von dem entgegengesetzten Dogma, von der rassisch bedingten und jeder menschlichen Einwirkung entzogenen Ungleichheit aller Menschen aus“, stellt er fest. Judenverfolgung und Holocaust entstehen in einem Gewaltraum, der den Bruch mit der humanistischen Tradition Europas voraussetzt.
Aus philosophischer Sicht besteht eine wichtige Erkenntnis aus der Abrechnung mit dem Nationalsozialismus darin, dass ohne eine abstrakte Idee vom Menschen völlig unklar ist, was am Rassismus oder anderen Ideologien überhaupt verwerflich sein soll. Der dem Regime nahestehende Jurist Carl Schmitt unterstützte die antiuniversalistische Philosophie der Nazis mit dem Satz: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“.
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Globale Bindung an rechtliche Grundsätze bliebt umstritten
Die Idee der globalen Bindung an rechtliche Grundsätze ist trotz der Erfahrungen mit Diktatur und Unrecht des 20. Jahrhunderts nicht unumstritten. Insbesondere die Kolonialpolitik zeigte auf, dass die Berufung auf die westliche Werte durchaus mit einer menschenverachtenden Strategie einhergeht.
Heute wetteifern das linke und das rechte Lager darum, den Maßstab des abstrakten Universalismus durch eine konkrete Identität zu ersetzen. Die Konservativen verteidigen angeblich traditionelle Werte, die Linken kämpft im Namen von Gender und Race.
„Für wahre Universalisten aber sollte das Wir nie der Beginn von Politik sein, es kann lediglich ihr niemals endgültiges Resultat sein.“ Mit diesen Thesen versucht Omri Boehm in seinem Buch „Dadikaler Universalismus“ einen konsequent humanistischen Ansatz in die Zukunft zu retten.
Dabei argumentiert er gegen den Verdacht, dass der Bezug auf universelle Werte nur die Herrschaft des weißen Mannes verschleiert. Der Philosoph fordert die Modernisierung der abstrakten Menschheitsidee und tritt für die Idee eines absoluten Gesetzesbegriffs ein. Dabei betont er, „dass der Kampf gegen systematische Ungerechtigkeit und falschen Universalismus nur im Namen des wahren Universalismus geführt werden kann. Und nicht im Namen der Identität“.
Boehm stellt sich wieder einmal der Frage, wie universelle Rechte begründet werden. Die wichtigste Errungenschaft des biblischen Monotheismus ist für ihn das Bekenntnis zu einer exklusiv, einzigen, wahren Gottheit – um diese, in einem weiteren Schritt, einer höheren Gerechtigkeit zu unterwerfen.
Am Beispiel des Propheten Abraham, der aufgefordert wird, einen seiner Söhne zu opfern, versucht er zu beweisen, dass das Recht sogar über einem möglichen Eingriff Gottes steht. Die Argumentation erinnert an die Bemühungen Kants, seine Fähigkeit, die biblische Idee ins säkulare Denken zu übersetzen, ohne in religiösen Glauben oder eine wissenschaftliche Reduktion zurückzufallen.
Muslime hoffen auf die BRICS, aber ignorieren deren Bevormundung
Die Aktualität der hier angesprochenen Fragen zeigt sich in der Debatte über das Ende der multipolaren Ordnung. Neue geopolitische Formationen wie das Bündnis „BRICS“ richten sich gegen die angebliche Dominanz der USA und der EU in der globalen Welt.
Viele Muslime scheinen dieser Bewegung etwas abzugewinnen und zu ignorieren, dass in den beteiligten Nationen eine freie Lehre und Religionsausübung ohne Bevormundung kaum denkbar ist.
Der Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten, zum Beispiel bezüglich ihres Umganges mit religiösen Minderheiten, wirft neue Probleme auf. Es stellt sich die Frage, ob das Phänomen des Doppelstaates, das Fraenkel beschrieb, mit der rechtlichen Wirklichkeit von Systemen wie China oder Russland, ohne sie mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen, vergleichbar ist. Die absolute Herrschaft der Politik über das Recht und die unterschiedlichen Folgen daraus, sind in vielen Staaten zu beobachten.
Es ist klar, dass gläubige Muslime ihre rechtlichen Überzeugungen aus der Offenbarung und nicht allein aus der menschlichen Vernunft ableiten. Es wäre ein Thema für sich, das universelle Recht des Islam, zum Beispiel das Wirtschaftsrecht, mit der westlichen Vorstellungswelt abzugleichen.
Aber im Sinne eines überlappenden Konsenses stehen Muslime auf der Seite derjenigen, die ihre Hoffnungen auf eine humane Zukunft nicht etwa aus der Überbetonung der Identität oder eines neuen Nationalismus ableiten. Die Maxime der Gerechtigkeit gilt, wo immer Menschen zusammenleben.