Die Provokation ist das alte Stilmittel der Ablenkung. Gerade wenn man sich provoziert sieht, ist es daher ratsam, kurz innezuhalten. Wem Hysterie unsympathisch ist und wer noch ruhig denken kann, sollte folgendes Zitat einmal zur Kenntnis nehmen:
„In den letzten Jahrzehnten sind auf der Erde unglaubliche Reichtümer entstanden, der Welthandel hat sich in den letzten 12 Jahren mehr als verdreifacht, das Welt-Bruttosozialprodukt fast verdoppelt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist der objektive Mangel besiegt und die Utopie des gemeinsamen Glückes wäre materiell möglich. Und gerade jetzt findet eine brutale, massive Refeudalisierung statt. Die neuen Kolonialherren, die multinationalen Konzerne – ich nenne sie Kosmokraten – eignen sich die Reichtümer der Welt an. Diese neue Feudalherrschaft ist 1000 Mal brutaler als die aristokratische zu Zeiten der Französischen Revolution.“
Das Zitat stammt aus einem Interview mit Jean Ziegler. Es ist dabei ziemlich irrelevant, ob dieser Mann ein Muslim ist oder nicht. Ziegler erliegt hier einmal nicht den intellektuellen Taschenspielertricks des Schreibtischhumanismus, die Welt also nur verantworten zu wollen wie sie sein soll, oder wie sie war. Es geht nach Ziegler darum, die Verantwortung zu übernehmen für den Zustand der Welt, in dem sie heute ist. Nur in diesem Zusammenhang macht die Debatte über den Islam irgendeinen Sinn. Denn, wenn einem egal ist, ob, wie dies beispielsweise Tariq Ramadan zu Recht anführt, 30.000 Menschen jeden Tag verhungern, warum dann überhaupt noch Debatten?
Der Islam, so stellen wir voran, hatte nie in seinem Zentrum Kopftücher oder mysteriöse Verheiratungsriten, wohl aber, um nur zwei zentrale Aspekte aufzuzeigen, die Liebe zum Schöpfer und das Verbot der Zinsnahme. Ja, wir Gläubige beklagen nicht nur die Industrie der Geschmacklosigkeiten, die unsere Würde tangiert, sondern, tiefer und ganz im Einklang mit dem großen Europäer Rainer Maria Rilke, eine Welt, die dem Menschen in die Hände gefallen ist. Das ist die Provokation, die wir verkörpern: Wir bilden das Lager der Menschen, die ihre existentielle Sicherheit und Furcht allein aus der unerschöpflichen Präsenz der Göttlichkeit ableiten. Diese Gewissheit, die uns wirklich ausmacht, ist so wenig reformierbar, wie der Fatalismus einer Welt, die keine Alternativen mehr denken kann.
Was wissen wir über unsere Lage? Einiges! Unser Schöpfer hat den Handel erlaubt und die Zinsnahme verboten, das Gegenteil führt – wie wir ganz aufgeklärt und rational sehen – in den ökologischen und ökonomischen Untergang. Schon Aristoteles wusste, wie man in der Politea studieren kann, dass die Zinsnahme die Schöpfung herausfordert und die Solidarität auflöst. Die Finanztechnik hat nun wie ein Hurrikan diese Herausforderung potenziert. Der moderne politische Islam, wenn er, besoffen von der Idee der Macht, die offenbarten Gesetzlichkeiten der Ökonomie vergisst, teilt hier übrigens durchaus das gleiche, gerechte Schicksal des Untergangs.
Aber kommen wir zurück zu Jean Ziegler. Wer sind also die neuen Feudalherren? Egal ob Berliner Medienmogule, amerikanische Rüstungsfirmen oder die Architekten exzentrischer Skihallen in der arabischen Wüste gemeint sind: Die Kosmokraten pflegen die Verschleierungstaktik. Sie verschleiern ihre unzugänglichen Parallelgesellschaften. Sie verschleiern Ihre Techniken der Desinformation, der statistischen Täuschung, der Einflussnahme und des Lobbyismus. Sie verschleiern ihre intellektuelle Abhängigkeit von der Existenz eines Feindes, also dem Gegenüber, dem sie die selbstgefällige Blindheit gegenüber der eigenen Frage als Gestalt verdanken.
Die Parolen der Verschleierungstaktik funktionieren einfach: Wir sind gut, sie sind böse! Sie sind anti-demokratisch, wir sind demokratisch! Hinter den Kulissen dieser anhand von Einzelfällen und der Verkörperung des Bösen geführten Debatten wird fleißig der autoritäre, der strukturelle, der kriegerische, der intolerante, der frauenfeindliche, der absolut „sichere“ Kapitalismus etabliert. Es ist der Kapitalismus, der Demokratie nicht mehr nötig hat und als Entwurf in der Davoser Zauberbergatmosphäre, mit politischen Zaungästen jedes Jahr vorgedacht wird. Ein ernster Vorgang, der nicht nur jede Politik zur Karikatur degradiert, sondern sich auch dem im politischen Feld fixierten Verfassungsschutz, der sich zunehmend als Dienstleister der Industrie versteht, sich notwendigerweise entzieht.
Die Funktion der Massenmedien der neuen Feudalherren ist bei der Verschleierungstaktik entscheidend. Auf der einen Seite verkauft sie die sinnlose Dialektik Islam gegen Europa, die angebliche Feindschaft der Muslime mit dem Geist Europas, auf der anderen Seite stellt sie als mächtige Boullevardliteratur die Banalität der Debatte sicher. Zu zeigen sind einfach, wenn es um Muslime geht, besonders böse, bizarre oder aber, zur Beruhigung, besonders unterwürfige und harmlose Exemplare. So entsteht eine als fremd verklärte, beinahe andersartige, minderwertige Gattung, die einfacher Bewertung und Verwertung unterliegt, der Schein hoher und niederer Werte. Die Verbannung aus der Debatte, eine der wichtigsten Funktionen der Massenmedien, sieht man einmal von der Abschiebung in das triste Asyl des Feuilletons ab, trifft darüber hinaus jeden, der die Verschleierung substantiell befragen könnte. Natürlich auch und gerade die brillianten und seltenen Köpfe, die wir noch unter uns haben. Man denke nur an Willemsen, Rufin oder Sloterdijk.
Man kann nun an der Verschleierungstaktik bewusst oder unbewusst teilnehmen, den Schleier ablegen oder um die Nasenspitze legen. Man kann allerdings nicht den offenbarten Prioritäten entfliehen. Die Zahlung der Zakat ist individuell, egal ob Mann oder Frau, religiös entscheidender als die kulturellen Feinheiten einer Kleiderordnung. Für die Muslime ist es an der Zeit, nicht nur die Priorität dieser Zeit für uns selbst zu erkennen, sondern gemeinsam den Schleier von der globalen ökonomischen Verheerung zu ziehen. Helfen wir doch mit, den wirklichen Schleier unserer Zeit abzulegen. Wir sehen dann in das Offene einer Verheerung, die den Kampf der Kulturen, mangels des Überlebens von Kulturen, längst ad absurdum geführt hat.
„Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt“, sagt Nietzsche. Auf unsere Situation angewandt, ist die Frage, ob der Islam eine ökonomische Oase stiften kann. Orte, wo anders gewirtschaftet wird, wo der Handel von monopolisierter Distribution befreit wird, wo soziale Sicherheit eine zwischenmenschliche Verpflichtung ist und nicht Inhalt einer zunehmend unbezahlbaren Versicherungspolice. Dieser Islam wird nicht auf den Aberwitz angeblicher Freund-Feind Verhältnisse hereinfallen, wie es die Verschleierungstaktik vorsieht, sondern das künftige Europa ökonomisch und kulturell beleben.