Es ist eine treffende Provokation, wenn Sloterdijk sagt, dass die Menschenrechte erfunden wurden, damit der Einzelne ohne Verantwortung für alle leben dürfe: „Diese ganzen Leute gibt es zwar, aber jeder soll für sich selber sorgen.“ (Aus dem Lokalteil der Darmstädter Zeitung)
„Nach dem 11. September 2001 hat sich im Rechtsbewusstsein der US-Regierung ein Bruch vollzogen“, schreibt in einem Zwischenruf Manfred Bleskin von n-tv. Was folgt, ist eine Analyse, über den „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“ und dessen umschriebene Zwecke, die heute offensichtlich – fast – jedes Mittel rechtfertigen. Tatsächlich sind gerade im guten alten Europa viele Europäer schockiert über die offene Krise des amerikanischen Rechtsbewusstseins. Der Glaube, dass gemeinsame wirtschaftliche Interessen, friedlicher Handel und eine immer engere Verflechtung der Interessen nicht nur Europa, sondern auch die Welt befrieden könnten, sind ebenso ernsthaft ins Wanken geraten. Zu offensichtlich treten die Abgründe im – wie Jean Ziegler dies formuliert – „Imperium der Schande“ auf. Hunger, nicht nur aus Zieglers Sicht, ist eine moderne Massenvernichtungswaffe.
Die neuen Kosmokraten sind keine Demokraten, behauptet Ziegler. Ihre ökonomischen Machenschaften haben sie aus der Enge Europas herausgeführt in neue imperiale, aber wertfreie Zonen. „Was Kaiser Karl V. in seinem Imperium nie ganz geschafft hat, für global aufgestellte Konzerne gilt es allemal: Die Sonne geht für sie nie unter“, resümiert VW-Chef Bernd Pischetsrieder in der Schweizer Zeitung Sonntagsblick zu den Chancen und Problemen auf den Weltmärkten. Es sind gottlob nicht mehr europäische Diktatoren, die heute den Weltstaat vollziehen, sondern die kalten Strukturen der ökonomischen Weltverwaltung und die Operationen einiger Großkonzerne. Es wird nun gestritten, ob diese neuen globalen Strukturen demokratisch und reformierbar sind. Es wird auch befürchtet, dass die nationalen Demokratien sich künftig autoritär gebären müssen, um die wachsenden Heerscharen der Arbeitslosen unter Kontrolle zu halten.
Ein wichtiger Nebenaspekt der Sicherheitsdebatte ist die allgemeine Akzeptanz ständig wachsender Kontrolle in der Bevölkerung. „Im Unterschied zu den vom Markt erzeugten Bedrohungen für den Lebensunterhalt und das Wohlergehen“, so Bauman in seinem Buch Verworfenes Leben, „muss das Ausmaß der Gefahren für die persönliche Sicherheit intensiv beschworen und in düsteren Farben geschildert werden, damit das letzliche Ausbleiben solcher Gefahren als außerordentliches Ereignis gepriesen werden kann, als Ergebnis der Wachsamkeit, Fürsorge und guten Willens der Staatsorgane“.
Heiligt das Ziel die Mittel? Das Ziel der Europäischen Union besteht nach den Worten des Verfassungsentwurfs darin, „dass ein nunmehr geeintes Europa auf diesem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands zum Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten, weiter voranschreiten will, dass es ein Kontinent bleiben will, der offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt, dass es Demokratie und Transparenz als Wesenszüge seines öffentlichen Lebens stärken und auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken will“. Mit anderen Worten, Europa ist nicht nur von seinen Werten überzeugt, sie sind als Ziele geradezu absolut gesetzt und bergen die latente Gefahr, dass die Erreichung dieser Werte mit Mitteln vollzogen wird, die nicht demokratisch, sondern wohl eher tyrannisch sind. Der Westen will nur verantwortlich dafür sein, was sein soll, nicht was de facto ist. Der Krieg für die Demokratisierung des Iraks, der Krieg zur Verhinderung der Kriegsgefahr, hat tatsächlich die Erlösung von der Diktatur Saddam Husseins gebracht, aber auch wohl zehntausende Unschuldiger das Leben gekostet.
Wenn es im Verfassungsentwurf heißt, die Europäische Union wolle „ihre Werte und Interessen“ fördern, und zwar auch in ihren Beziehungen zur übrigen Welt, sollte die berühmte Warnung des Rechtswissenschaftlers Carl Schmitt vor der „Tyrannei der Werte“ nicht in Vergessenheit geraten. Die These Schmitts ist so berühmt wie provokant: „Seiner Tendenz nach ist jedes Wertdenken latent aggressiv“. Nicht das Sein der postulierten Werte, wohl aber ihre Verwirklichung führt leicht zur Ideologisierung, ja Fanatismus im Blick auf einen bestimmten Wert. Alle Werte, so Schmitt nüchtern, sind immer auch interessensgeleitet. Sie basieren auf den „subjektiven“ Wertungen der an ihnen interessierten Subjekte. Das bedeutet aber auch: „Niemand kann werten, ohne abzuwerten, aufzuwerten und zu verwerten.“ Der Terrorist wird in dieser Logik ganz notwendigerweise zum „Unwert“, die Kriege gegen ihn sind naturgemäß „total“ – insofern logisch, dass er auch keine Rechte mehr hat.
Wer – auch als Muslim – für moralische Werte und gegen den Geist des Materialismus streiten möchte, sei daran erinnert, dass der Wertbegriff von Haus aus gar kein ethischer, sondern ein ökonomischer Begriff ist. Der Wert einer Sache bestimmt ihren Preis, der am Markt zu erzielen ist. Wir sprachen ursprünglich vom Gebrauchswert, Tauschwert oder Realwert von Gütern. Nicht Werten, sondern Menschen hat die Politik zu dienen. Die Folgen sind bekannt: die deutschen Wirtschaftsinteressen in China sind ein „Wert“, die mit faschistoiden Methoden drangsalierten Uiguren stellen ebenfalls einen „Wert“ dar, nach der Bewertung beider, gleichberechtigter Werte entscheidet man sich für das Geschäft.
Werte, auch solche der Moral, sind eine Sache der persönlichen Wahl oder auch der gesellschaftlichen Konvention. Der Islam hat im Mittelpunkt seines Denkens die Göttlichkeit und ihre Rechte, und glaubt so, dass die Akzeptanz dieser Rechte dem Menschen seine eigentliche Würde und Sicherheit bringt. Der religiöse Mensch ist in seinen Bewertungsmöglichkeiten und in seiner Politik damit eingeschränkt. Der Islam als Asyl des Rechtsbewusstseins in der Moderne? Vielleicht ja. Aber natürlich muss dann das islamische Recht seine Krise überwinden, die Taten der Terroristen und ihren Ungeist aus der islamischen Gemeinschaft ausgrenzen und so den islamischen Beitrag zum Kampf gegen den Terrorismus leisten. Heute ist die Trennlinie zwischen Recht und Politik vielen „modern“ denkenden Muslimen längst unklar geworden. Die Folge ist die Dominanz des politischen Denkens, je nach Lage, liberal oder extremistisch.