Der Katholizismus als politische Form lautet eine berühmte Schrift Carl Schmitts, in der er der Kirche eine natürliche politische Substanz zuordnet. Autoritär verfasst, ist die Kirche von Natur aus ein Politikum. Seit Jahrhunderten ist dabei die – je nach Sichtweise – Nähe und Ferne der Kirche zur weltlichen politischen Macht umstritten. Fast schon traditionell wird ihr schleichender Opportunismus gegenüber der politischen Macht vorgeworfen. In ihrer neuesten Schrift „Demokratie braucht Tugenden“ definieren die beiden Großkirchen nun die Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens und ihre eigene aktuelle, staatstragende Rolle darin. Die Kirchen sähen ihren Auftrag und ihre Kompetenz vor allem darin, für eine Wertorientierung in der Politik einzutreten, in deren Zentrum die Würde jedes Menschen, die Achtung der Menschenrechte und die Ausrichtung am Gemeinwohl stünden. Dabei sei auch für die Kirche das zentrale Gegenwartsproblem die hohe Arbeitslosigkeit. Die Kirchen, so kündigt das Papier an, würden auch in Zukunft für die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes eintreten, weil diese in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspräche und, so sorgt sich die Kirche, dass „es zur Demokratie keine akzeptable Alternative gibt, bedeutet keineswegs, dass wir uns einfach darauf verlassen können, die Demokratie werde es schon schaffen, wie auch immer wir mit ihr umgehen“.
Das Themenfeld des neuen Reichtums und die Position der Kirche zum Wildwuchs der Globalisierung bleibt in dem Papier gewohnt schwammig und vage. Dabei gibt es viele Theologen und viele einfache Christen, die eine stärkere Profilierung und unbequemere Positionen der Kirchen gerne sehen würden. Das „liebe Geld“ habe dem „lieben Gott“ den Rang abgelaufen, formuliert der Theologe Hans-Joachim Höhn. Sein Kollege Thomas Ruster mahnt ein deutlicheres Profil des Christentums gegenüber der Wirtschaft als „dominante Macht in der Welt“ an. Dem Kapitalismus mit seinem Zinssystem müsse die Anerkennung verweigert werden. Es gelte, alle Versuche der Vermittlung mit einer gottlosen Welt aufzugeben. Stattdessen sollte sich das Christentum nach seiner Auffassung zu den biblischen Lehren über wirtschaftliches und soziales Verhalten bekennen, einschließlich des Zinsverbots.
Heute wird das Zinsverbot, das man einst mit den Muslimen teilte, nur noch von einer Minderheit der Christenheit reflektiert. Logisch ist das nicht. Schon Moses verlangte, dass einem verarmten Menschen geholfen werden müsse, ohne von ihm Zins zu nehmen. Ein Kernstück der heute fast gänzlich ignorierten Wirtschaftskritik Martin Luthers galt der Ungleichheit des Risikos zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer. Luther sah im Zins nehmenden und gewinnorientierten Wirtschaften überhaupt die systematische Umkehrung des von Gott geforderten Verhältnisses zum Nächsten. Er wollte eine Ökonomie, die sich nicht am persönlichen Gewinn, sondern am bedürftigen Nächsten orientiert.
Politisch ist die Kirche jedenfalls wieder in aller Munde. Sie gibt sich betont staatstragend und beschränkt sich, wenn überhaupt, auf leise moralische Kritik am globalen Wirtschaftssystem. Sie agiert, doziert und provoziert auch, wie immer in Deutschland, wenn es um ihr anspruchsvolles „Weltbild“ geht, intellektuelle Gegenrede. „Ratzinger wäre falsch interpretiert, wenn man ihn als Antidemokraten beschriebe. Er plädiert für eine christliche Demokratie. Ich würde das übersetzen in ein Theorem, an dem ich seit längerer Zeit arbeite: Was uns demnach bevorsteht, ist die globale Wende in den ‘autoritären Kapitalismus’ – und zwar auf der Grundlage eines neo-autoritären Werte-Denkens. Ratzingers Visionen lassen sich mühelos in einen solchen Kontext einordnen. Das 21. Jahrhundert wird zum Labor des Neu-Autoritarismus, das heißt des Kapitalismus, der die Demokratie nicht mehr nötig hat.“ So beschreibt Peter Sloterdijk in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ vom Juli 2005 die – aus seiner Sicht – anstehende Wendung zum modernen „christlichen“ Demokratiebegriff. Die Kirche – so der Karlsruher Philosoph – hat so ihr warmes Plätzchen im Weltinnenraum des Kapitals gefunden.
Das eher unkritische Verhältnis der Kirche und des Papstes zur – sagen wir einmal – lokalen Macht zeigte sich besonders bei den Papstbesuchen in Bayern. Kritische oder unbequeme Worte, Forderungen gegenüber der weltlichen Macht und natürlich auch gegenüber dem CSU-Ministerpräsidenten Stoiber sind nicht überliefert. Stattdessen teilt man am Alpenrand die Skepsis gegenüber einem Beitritt der Türkei in die EU und den Glauben an die abendländisch-christliche Schicksalsgemeinschaft. Neben christlichen Gottesdiensten und der Liebe zur bayrischen Folklore trifft man sich in der Abneigung gegenüber einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Strategisch geht es der Kirche um ein „christliches Europa“, der CSU – zwischen Laptop und Lederhose – um ein neokonservatives Profil. Die islamische, auch islamistische Welt ist ein umworbener Wirtschaftspartner der Bayern, aber als Lebensform den Bajuwaren fremd. „Das Gesicht Europas würde durch den EU-Beitritt der Türkei grundlegend verändert, und zwar in eine Richtung, die wir nicht wollen“, wird CSU-Chef Stoiber zitiert.
Nach seinem Besuch in Bayern und der damit verbundenen Erneuerung der traditionsreichen kirchlichen Partnerschaft mit der weltlichen Macht beweist der Papst tatsächlich, dass er nicht etwa eine provinzielle, sondern durchaus eine globale Strategie verfolgt. Widersprüche sind dabei immer wieder an der Tagesordnung. Der aktuelle Besuch des Papstes in der Türkei war nach eigenem kirchlichen Verständnis der Seelsorge geschuldet, tatsächlich aber wohl nichts anderes als ein neues Kapitel geläuterter Machtpolitik des Vatikan. Mit gewaltigem Medienrummel landete der Papst, der es bisher vorzog, die Muslime zu sich kommen zu lassen, in der Türkei. Die Reise war allerdings in jeder Sekunde eine politische Gratwanderung für den Papst. Nach einem kurzen tête-a-tête mit Ministerpräsident Erdogan eilte er nach Ankara und legte einen Kranz am Grab des türkischen Staatsgründers nieder – sichtlich unsicher, ob es sich dort schickt, „die Hände zum Gebet zu falten“.
Eine kritische Begleitung des Papstbesuches und eine kritische Befragung der tragenden Motive fand kaum statt, nur auf Spiegel Online wurde dieses neue Kapitel vatikanischer Diplomatie mit der Überschrift „Generalplan zur Rüstung des Christentums“ versehen. Neben der Stärkung des Christentums, bedroht von Säkularisierung und – wie man des Öfteren von Kirchenoberen hört – vom Islam, ging es nun der Kirche, so zumindest Spiegel Online, um eine Allianz mit den „wehrhaften“ orthodoxen Kirchen des Ostens. Der deutsche Papst sieht sich nach seinem erfolgreichen Besuch in Ankara mittelfristig auch in Moskau.
Der Besuch war zweifellos ein medial perfekt inszenierter Erfolg und scheint die diplomatischen Verwerfungen nach der Regensburger Rede zu beheben. Der Papst zeigte sich bei seinem Türkeibesuch flexibel, er war vorsichtig, lobte den Islam und konnte sich – so zitiert es später zumindest Erdogan – plötzlich sogar eine Türkei in der EU vorstellen. Im Sommer vergangenen Jahres, als der „Schülerkreis“ des deutschen Theologen, ein Zirkel ehemaliger Habilitanden Ratzingers und theologischer Vertrauter, in der päpstlichen Sommerresidenz ein Seminar zum Thema „Islam“, besser gesagt zum Thema „Grenzen des Dialogs mit dem Islam“, abhielt, hörte sich die päpstliche Position noch anders an. Dort war gesagt worden, dass der Islam keine wirkliche Vorstellung von Laizität habe. Dass es keine zentrale Autorität gebe und der Qur’an als Gotteswort gelte, nicht als von Gott inspiriertes Wort wie im modernen Christentum. Ein „Dialog mit dem Islam“ auf gleicher Augenhöhe sei daher problematisch. Besser sei es, vom „Dialog mit der Kultur des Islam“ zu reden.
Die Begegnung mit dem Islam wird in Zeiten leerer Kirchen tatsächlich immer wieder gerne als Bedrohungsszenario inszeniert, auch um die christlich-konservative Mobilisierung, die im Kern vom Feindbild Islam lebt und ganz Europa ergreifen soll, mit neuem Leben zu versehen. Eine, wie Sloterdijk dies fasst, verspätete Wendepolitik sozusagen. Die Nähe zu den konservativen Regierungen und die Abneigung gegenüber der Stärkung der muslimischen Gemeinschaft in Europa ist dabei ein wichtiges Motiv.
Zweifellos sieht die „Wirtschaftsmacht“ Kirche im Islam natürlich in Europa einen Konkurrenten, der die eigene herausgehobene gesellschaftliche Stellung und die nachhaltige Finanzierung der zölibatären Bürokratie gefährden könnte. In seinem Buch „Wirtschaftsimperium Kirche“ beschreibt Friedhelm Schwarz diese andere Seite der Kirche so: „Der Jahresumsatz ist höher als der von Telekom, Post und Bahn zusammen. Die Zahl der Mitarbeiter übersteigt die von Siemens um das Dreifache. Hinzu kommen Subventionen, Steuervergünstigungen und ein riesiges Gesamtvermögen – die Kirche ist ein wahrer Wirtschaftsgigant, der mächtigste Konzern Deutschlands.“
Der Islam in Deutschland, aus Sicht der politischen Kirche so notwendig wie bewusst einschränkend als Immigrantenphänomen verstanden, ist dagegen im Kampf um Meinungen und Köpfe bescheiden, sagen wir spärlich ausgestattet. Hier kommen alte Standortnachteile zum Tragen. Dennoch entdecken immer mehr Menschen in Deutschland den Islam, gerade auch, weil er sich für die Intelligenz, die sich vom Christentum abgewandt hat, als „denkbar“ zeigt und ohne evident irrationale Glaubenssätze auskommt. Die Schwierigkeiten mit der Dogmatik des Christentums haben in der deutschen Philosophie und Literatur Tradition. Nietzsche, der Philosoph mit dem Hammer, war sogar soweit gegangen, Europa zwei Grundprobleme, nämlich „Alkohol und Christentum“ zu attestieren. Goethe und Rilke hatten die Einheitslehre des Islam bewundert und den Verzicht auf vermittelnde Priester schlicht als Befreiung begriffen.
Die Beschäftigung mit dem Islam und der letzten Offenbarung nimmt jedenfalls stetig zu. Neben der Beantwortung der alten Fragen zwischen Leben und Tod ist es auch das Festhalten an ökonomischen Grenzziehungen, das den Islam für den europäischen Intellekt in der Moderne nachvollziehbar macht. Die Beschränkung ökonomischer Macht, in der Offenbarung unmissverständlich, vernünftig und klar beschrieben, ist nichts anderes als eine der wesentlichen Sinnzusammenhänge der islamischen Botschaft in dieser Zeit. Es ist übrigens genau die Stelle, in der sich der alte Opportunismus der Kirche gegenüber der weltlichen Macht in gewandelter Form zeigt.